Donnerstag, 23. September 2010

Tag 7, Irkutsk / Baikalsee

Ich wurde heute äusserst unsanft geweckt. Dazu muss man Folgendes wissen; Ich habe in den letzten Tagen sechs Zeitzonen durchquert und wenn man am Morgen aufstehen muss und nicht weiss in welcher Zeitzone man sich befindet, verspricht das einen unruhigen Schlaf. Im Zug ist überall Moskauer Zeit angegeben, aus irgendeinem Grund fällt mir das aber nicht ein, als ich vor dem Schlafen das letzte Mal auf die Zuguhr schaue und denke um 22 Uhr, dass ich ja noch 8 Stunden Schlafzeit habe, nur ist es da in Wirklichkeit schon 4 Uhr morgens, 2 Stunden bis Irkutsk. Eineinhalb Stunden später rüttelt mich also Sergei, der Geologe, stürmisch aus dem Schlaf und ruft „Irkutsk!“ Tatjana ist auch wach und alle lachen, als ich Richtung Toilette torkle. Schlaftrunken denke ich, dass sie sich einen Scherz erlauben, vielleicht etwas, das auf der Bahn Tradition hat, dass man die Ausländer ein bisschen verarscht. Ich denke also, es ist 0 Uhr und will mich wieder hinlegen, gemeinsam halten sie mich davon ab und deuten auf ein Gebäude auf dem rot und gross „Irkutsk“ steht. Reflexartig packe ich mein Zeug zusammen, aber Tatjana, Olad und Sergei setzen sich hin und bedeuten mir, es ihnen gleich zu tun. Tatjana holt einen Panettone aus ihrer Wundertüte, schneidet jedem ein Stück ab und dann singen sie. Es dauert einen Moment, bis ich merke, dass es die russische Version von „Happy Birthday“ ist. Vielleicht durch den wenigen Schlaf habe ich Tränen in den Augen. Zu Beginn der Reise hatte ich Tatjana meinen Pass mit den Visa gezeigt, um meine vor mir liegende Route zu verdeutlichen und sie hatte sich an mein Geburtsdatum erinnert. Kurz darauf packen wir unser Zeug und steigen aus, Tatjana begleitet uns, sie kann sich nicht vorstellen, dass um sechs Uhr morgens wirklich jemand am Bahnhof auf mich wartet, so oft ich ihr das auch versichere.

Da steht sie. Blond, gross, leicht zitternd, denn in Irkutsk ist es vielleicht fünf Grad, mit einem Schild, das meinen Namen trägt in der Hand. Ihr Name ist Inna, sie spricht deutsch mit einem Akzent, der mehr französisch als russisch klingt, sonst aber beinahe perfekt. Ich trage immer noch meine Trainerhosen aus dem Zug und bin auch sonst recht unbeholfen. Sie fragt, ob wir gleich mit der Tour beginnen oder zuerst frühstücken wollen. Wir gehen frühstücken, im Keller eines Hotels, drei Gänge. Nach dem zweiten kann ich nicht mehr. Wir reden und reden, die drei Tage voller sprachlicher Missverständnisse und resignierter Gesprächspausen im Zug haben in mir einen unglaublichen Durst nach Konversation zurückgelassen. Ein Fahrer taucht wie ein Geist aus dem nichts auf. Wir gehen durch die dämmernde Stadt, die man das Paris von Sibirien nennt und ich kann sehen, weshalb. Breite Strassen und Gehwege, klassizistische Gebäude, Kinos, Theater, Puppenhäuser, Parks und ein Fluss, Angara, der die Seine wie ein dünnes Rinnsal aussehen lässt. Inna ist ein wandelndes Lexikon, ihr Wortschatz ist unglaublich, egal ob wir über Architektur, Geschichte oder Biologie reden. Wir gehen durch die noch menschenleere Stadt und immer wieder taucht der Fahrer aus dem nichts auf und bringt uns an einen neuen wunderbaren Ort.







Als wir bei einer Erlöserkirche stehen, die gleichzeitig das älteste Gebäude Irkutsks darstellt, beginnen die Glocken zu läuten, sie rufen zum Morgengebet.




Wir betreten die Kirche. Die Menschen stehen da, zum Altar gewandt. Ein Priester spricht, halb singend die Gebete, am Ende jedes Satzes bekreuzigen sich die Menschen und senken den Kopf, am Schluss gehen die Frauen auf die Knie oder berühren kurz den Boden. Auch Inna beteiligt sich am Gebet und lächelt mir dazwischen zu, ihr Haar unter der Kapuze ihrer Jacke verborgen, die anderen Frauen tragen Kopftücher, keine von ihnen ist barhäuptig. Jemand geht mit dem Sammelteller herum, ich lege, von der Zeremonie und dem mangelnden Schlaf noch ziemlich benommen, einen Schein hinein, ohne zu wissen, was für einen. Draussen fragt Inna, wieso ich Religionswissenschaft studiere, wenn ich doch ungläubig sei und ich habe beim besten Willen keine Antwort darauf. Irkutsk hat eine blutige Geschichte, viele Rotgardisten wurden aus Petersburg oder Moskau vom Zar hierher in die politische Verbannung geschickt:

Im Dezember 1825 revoltierte eine grosse Gruppe russischer Adliger gegen Nikolaus I.. Die Revolte wurde niedergeschlagen und die so genannten Dekabristen wurden nach Sibirien verbannt und siedelten sich großssteils mit ihren Familien in Irkutsk an. Die Dekabristen hatten einen immensen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung und das Selbstverständnis der Stadt und sind auch heute noch im allgemeinen Bewusstsein sehr präsent.

(Von diesen Dekabristen oder eben Dezemberisten hat die Band The Decemberists übrigens ihren Namen.)

Die Stadt ist voller Denkmäler, ob hingerichtete Weissgardisten oder die in jeden russischen Stadt vorkommende, ewige Flamme für die Opfer des zweiten Weltkriegs.



Wir gehen hinunter zum Fluss, wo viele frisch verheiratete Paare hinkommen, um sich ablichten zu lassen und es Tradition ist, ein Schloss, als Zeichen des ewigen Bundes an das Geländer zu ketten. Einige der Schlösser sehen aus, als wären sie schon Jahrzehnte dort. Ich frage Inna, ob sie verheiratet ist, sie schüttelt errötend den Kopf. Eine Katze kommt auf uns zu und beginnt sich wie wild an meinem Bein zu reiben, sie versucht ernst zu bleiben und spricht über die Herkunft eines Denkmals von Zar Nikolaus. Ich blicke streng und interessiert drein, während die Katze Richtung Höhepunkt steuert. Inna sieht mich an und beide ziemlich übermüdet lachen wir wie die Irren, die Spannung der letzten Tage fällt von mir ab, wir können gar nicht mehr aufhören. Eine dicke Frau joggt vorbei, sieht uns irritiert an, wir lachen, bis die Augen tränen und der Bauch schmerzt. Je länger, je mehr kommt mir die Tour wie eine Verabredung vor.



Der Fahrer taucht aus dem nichts auf und wir machen uns auf den Weg nach Listwjanka, einer Stadt direkt am Baikalsee, unterwegs halten wir beim Freilichtmuseum Talzy:

36 alte Bauten wurden hier wiedererrichtet: ein Ewenken-Lager, burjatische Jurten, Bauernhäuser, Kirchen und ein Teil einer von den russischen Sibirien-Eroberern Ostrog genannten Holzfestung. Dieser Ostrog stand ab 1630 in Ilimsk, etwa 500 Kilometer nördlich des heutigen Irkutsk. Mit der Zeit wurde diese Festung mit ihren acht Türmen zum regionalen Zentrum. Der Spasski-Torturm des Ilimsker Ostrogs steht heute in Talzy, weil Ilimsk durch dem Ust-Ilimsker Stausee überflutet wurde. Neben dem Festungsfragment stehen eine aus dem 17. Jahrhundert stammende Kapelle, ebenfalls aus Ilimsk, sowie eine Kirchenschule aus dem 19. Jahrhundert.

Daneben ist das Museum Leben, Gebräuchen und Traditionen in der Kultur der Bewohner Transbaikaliens – Russen, Burjaten und Ewenken – im 19. und 20. Jahrhundert gewidmet.


Wir besuchen das Baikalseemusem, viele ausgestopfte Tiere, viele Tiere auch, die nur hier vorkommen. Ich bin voll mit Informationen über Flora und Fauna. Inna redet und redet, sie spricht in einem Fluss und man merkt, dass sie diesen See liebt, sich wirklich für die historischen und biologischen Fakten begeistert und ihre Begeisterung, ihr Wesen ist ansteckend. Im Keller des Museums befindet sich ein Aquarium, darin neben Golomjanka und Omul, die ich im Laufe der nächsten Tage zu verspeisen hoffe, auch die Baikalrobbe, ebenfalls einzigartig auf der Welt und nur eine von zwei Robbenarten, die im Süsswasser vorkommen. Der ganze Baikalsee gefriert im Winter, eine meterdicke Eisschicht bedeckt ihn. Dick genug, dass ihn im Winter selbst Lastwagen überqueren, die Baikalrobben haben lange Krallen, um beständig Löcher in den dicken Eispanzer zu graben, um atmen zu können.


Zwei Drittel der rund 1500 Tier- und 1000 Pflanzenarten sind endemisch.“ sagt Inna gerade und fährt auf meinen fragenden Blick hin fort „endemisch bedeutet einzigartig.“ Irgendwie beschämt es mich, dass sie in meiner Sprache Wörter kennt, die ich nicht kenne und nicht nur ein paar, sondern dutzende. Wir gehen am Ufer entlang und irgendwann treffen sich unsere Hände, sie bringt mich in mein Hotel und regelt alles an der Rezeption, ich frage, ob sie mich auf mein Zimmer begleiten möchte, sie nickt errötend und sagt, dass sie später wieder zurück nach Irkutsk müsse. Es ist sehr schön.

Als ich erwache ist es schon dunkel, ich stelle den Fernseher an, es ist ein Uhr morgens. Modern Talking, die hier unerklärlicherweise sehr grosse Popularität geniessen, singen “you're my heart, you're my soul“. Auf dem Nachttisch liegt mein Billett für die Weiterreise mit der transsibirischen Eisenbahn und mein Programm für den morgigen Tag, welches sich auf die Wörter „Breakfast“ und „Free Day“ beschränkt, darunter mit Kugelschreiber geschrieben, ihre E-Mail-Adresse.

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