Dienstag, 28. September 2010

Tag 11, Transsib

Wir hängen im Zug herum, essen, trinken Tee. Beim Rauchen freunde ich mich mit einem älteren, englischen Mann an. Er hat etwas von einem klassischen Dandy, mit Schal und einer leicht gelangweilten, gehobenen Ausdrucksweise. Ich bin beeindruckt von seinen Reiseerlebnissen. Ein Mädchen aus Argentinien gesellt sich zu uns, bringt Tee mit Rum. In einer Art Sport oder Rivalität buhlen wir um sie, erzählen Geschichten und Zweideutigkeiten. Sie unterhält sich bestens, irgendwann taucht ihr Freund auf, der sich wohl nach einer Stunde gewundert hat, wo sie steckt. Ein Tscheche bringt Brot und Gurken. Wir plaudern und er erzählt, dass er die Sommer seiner Kindheit in der Schweiz, genauer in Thalwil verbracht hat, was mich, schon leicht angeheitert und im Redefeuer, ziemlich aus den Socken haut. Thalwil ist gleich um die Ecke des Dorfes, in dem ich meine Kindheit verbracht habe und er sei auch oft im Langnauer Wildpark gewesen. Vielleicht bin ich ihm als Kind sogar mal begegnet. Wir bringen den alten „die Welt ist ein Dorf“-Spruch und ich gehe zurück in mein Abteil. Dort geht es hoch her. Erik, ein Schwede, und seine Freundin sitzen da mit Chris und Ruth.
Alle sind ziemlich angetrunken. Ich setze mich dazu und wir sprechen über Politik und darüber, dass es in Stockholm scheinbar eine Stadt unter der Stadt gibt. Eine ganze Stadt im Untergrund. Ich erzähle von den Armeestädten innerhalb der Schweizer Berge und alle schauen ungläubig. Wir sprechen über Mankells Wallander, von dem ich vor ein paar Jahren regelrecht besessen war und Erik sagt, dass in Ystad, wo die Romane spielen, in Wahrheit vielleicht 9000 Menschen leben, es also äusserst unwahrscheinlich sei, dass dort so viele Morde passieren. Wir lachen. Erik ist Krankenpfleger, seine Freundin Kindergärtnerin, Ruth ist Psychologin und Chris arbeitet für HSBC. Alle ausser Chris sind also in sozialen Berufen., was man der Diskussion anmerkt. Wie immer sage ich auch hier, dass ich Lehrer bin, wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt, man muss ja nicht gleich die ganze Lebensgeschichte erzählen und immerhin war ich mal auf dem besten Weg, Lehrer zu werden. Jedenfalls dreht sich die Diskussion bald um das Gesundheitswesen, bald um Politik. In allen Ländern der Beteiligten ist die Situation dieselbe. Die rechten Parteien schüren Angst vor allem, was anders oder neu ist, obwohl man, was Bevölkerungswachstum und Erledigung der Arbeit, die kein Einheimischer machen möchte, auf diese Zuwanderer angewiesen ist und gerade die rechten Parteivertreter von eben diesen billigen Arbeitskräften oftmals am meisten profitieren. In meiner Zeit als angehender Lehrer wurde an der pädagogischen Hochschule das skandinavische Modell als erstrebenswertes Ideal dargestellt, wir haben sogar Filme aus schwedischen Schulen geschaut. Die Geschichten, die Erik aus seiner Schulzeit erzählt, relativieren dieses Bild, ja zeigen, dass dort dieselben Mechanismen wie überall laufen. Es geht um Selektion, Menschen werden eingeteilt, um in irgendeine Wirtschaftssparte zu passen. Die mongolische Zugbegleiterin streckt zum hundertsten Mal ihren Kopf in unser Abteil, flucht auf mongolisch und hält ihren Finger vor die Lippen, ich schaue auf die Uhr, es ist 3 Uhr morgens, um 6 hält der Zug in Ulaan Baator. Erik, Chris und ich torkeln Richtung Toilette. Erik geht zuerst, es dauert so lange, dass ich gegen die Wand gelehnt weg döse. Nach ihm betrete ich den engen Raum, es stinkt bestialisch, Ich atme durch den Mund, pisse schnell ins Waschbecken, wasche Hände und Gesicht. Als ich herauskomme, frage ich: „did you kill something in there?“ Irgendetwas an dem Satz legt bei uns allen einen Schalter um, ein Damm bricht, wir bepinkeln uns fast vor lachen. Die mongolische Provodnica kommt, ernsthaft wütend, mit einem Stock in der Hand, den sie braucht um Fenster zu schliessen und treibt uns förmlich in die Kabinen zurück.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen