Mittwoch, 29. September 2010

Tag 14, Terelj

Die romantischen Vorstellungen von einem Leben in der Jurte werden in der Nacht ziemlich stark relativiert. Eine Stunde nachdem das Feuer aus ist, sinkt die Temperatur auf den Nullpunkt. Ich zittere, hole so ziemlich jedes Kleidungsstück aus meinem Rucksack und ziehe es an. Unter zwei Decken, einem Schlafsack, drei Leibchen und Pullover, sowie langen Unter und Trainerhosen döse ich langsam weg, möglichst ohne mich zu bewegen Denn jedes mal wenn ich mich bewege, merke ich die Kälte an einem neuen Teil meines Körpers. Die Jurte wurde noch nicht winterfest gemacht, im Winter legen die Nomaden mehrere Lagen Filz auf die Schaffelle der Jurtenwand und der jetzt noch Wind durchlässige untere Teil wird mit Erde und Dung versiegelt. So um fünf erwache ich, die Blase drückt, draussen liegt Schnee oder gefrorener Tau, es windet so fest, das ich mich kaum auf den Beinen halten kann.

 
Djerra und Ganna oder Derrick und Harry, wie ich sie insgeheim nenne (Djerra sagt immer bevor wir aufbrechen auf mongolisch „Hol den Wagen Ganna“) schlafen fest aber wälzen sich auch vor Kälte. Ich will trinken, doch das Wasser in der Flasche ist gefroren. Ich trinke zwei Schluck Dschingis Kahn Vodka und in Embryostellung schlafe ich schliesslich ein. Ein paar Stunden später kommt der Alte aus der Jurtenkneipe und macht Feuer, ohne zu sprechen warten wir ungeduldig und stoisch um den Ofen.
Zum Frühstück gibt es Fleischsuppe mit Kartoffeln und Gemüse, dazu Fleisch in Blätterteig gewickelt und natürlich Yakmilchtee. Wir schauen, noch ziemlich erschöpft von der Nacht, einen Film mit einem Bär, der sehr nach Disney aussieht. Jemand jagt den Bär, der eigentlich ein verwandelter Mensch und der Bruder des Jägers ist. Wir rauchen und Djerra plaudert mit dem Alten. Dieser erzählt, dass in der Nähe ein Pferderennen stattfindet, Heute ist der siebzehnte Tag nach Herbstbeginn, ein wichtiger Tag nach Mond/buddhistischem Kalender. Wir wissen nicht genau, wo das Rennen stattfindet, also fragen wir reitende Nomaden und sie zeigen uns die Richtung.


 
Nach einigen solchen Richtungsanweisungen erreichen wir unser Ziel. Es sind nur zwei andere Autos, ein paar Pferde und Jungen von vielleicht sechs bis zehn Jahren da. Das sind die Jockeys, die Nomadenkinder sitzen schon mit vier auf einem Pferd und sind ein paar Jahre später bereits so gut, dass sie an Rennen teilnehmen können. Mehr Reiter und Autos gesellen sich zu uns, ich bin hier eine Kuriosität, man macht Witze. Einer sagt, er möchte mit mir die Uhr tauschen und ist enttäuscht als ich keine trage, ein Anderer hat ein Konto voller Gold in der Schweiz und wieder ein anderer will eine Schweizer Bank überfallen. Ich werde herzlich aufgenommen und obwohl es erst 11 Uhr morgens ist, nötigt man mich, Vodka und Bier zu trinken, dazu Brot und Wurst. Nach dem dritten Glas schwanke ich bereits gefährlich und werde beinahe von einem Pferd überrannt, zur Stärkung nehme ich einen Schluck Bier. Ich biete allen Zigaretten an, um michzu revanchieren und sie werden gerne genommen, besonders, als ich sage, dass sie aus der Schweiz kommen Die Kinder reiten los Richtung Startpunkt, denn wir stehen am Ziel. In der Ferne sehe ich, dass einer der Jungen abgeworfen wird. Ein Mann in Tracht eilt zu ihm hin. Djerra erklärt, dass die Tiere im Training auf einen schnellen Start gedrillt werden und deshalb schwer zu kontrollieren sind. Dem Jungen ist nichts passiert und sie reiten weiter.




 

Nach einer Weile und zwei neuen Runden Vodka, die ich erfolglos abzulehnen versuche, tauchen die Jungen in der Ferne auf. Der Junge, der sich mir auf englisch als „Tony“ vorgestellt hat und deshalb mein Favorit ist, gewinnt.




 


 
Jeder Reiter wird mit Schreien begrüsst und danach beginnt die Preisverleihung, Ich sehe nicht mehr so klar und kann deshalb nicht sagen, was die Jungen bekommen. Ich tippe auf Wasserkocher, während ich durch die jubelnde Menge torkle und konzentriert auf meine Kamera starre, um beschäftigt und nicht so betrunken auszusehen, deshalb die vielen Videos.



 

Nach einer Ehrenrunde und einem Abschiedstrunk gehts zurück nach Ulaan Baator, auf dem Weg essen wir die Reste von meiner Zugreise, die Krakowska-Wurst findet grossen Anklang. Ich döse weg im Wagen, wir halten bei einer Bar, die „Dschingis Beer“ heisst und nach dem im selben Gebäude gebrauten Bier benannt ist, wie jedes Bier hier nach dem deutschen Reinheitsgebot.


 

In der Zeit des kalten Krieges waren in der DDR viele mongolische Gastarbeiter, legale und nach der Wende illegale, etwa 30'000 Mongolen sprechen deshalb deutsch, die grösste deutschsprechende Gruppe ausserhalb Europas. Die Sonne scheint und gleichzeitig schneit es, doch dass ist nicht das einzig Merkwürdige hier. In der Toilette, die an Luxus kaum zu überbieten ist, (statt sich die Hände am Wasserhahn zu waschen hat es dampfende, feuchte Tücher und Marmorwände) höre ich, in der Kabine pissend, zwei deutsche Schwule, die am Pissoir miteinander turteln. Ich warte, bis sie gegangen sind und setze mich wieder zu Djerra, erzähle ihm vom Zürcher Nachtleben, erzähle ihm von OMG und er ist hell begeistert. Wahrscheinlich wird es in Ulaan Baator in Zukunft eine Firma namens „OMG Tours“ unter seiner Leitung geben. Aufs neue angeheitert besuchen wir die Oper und die Darbietung mit Pferdekopfgeige und Obertongesang reiht sich mühelos in den sonst schon surrealen, wunderschönen Tag. Ich habe in einer Jurte gefroren, wurde danach von Nomaden als einer der ihren aufgenommen, habe einen Mann gesehen, der seinen Adler spazieren führt, also ist ein Mädchen, das sich auf unmögliche Weise zu fremdländischen, nie gehörten Klängen verbiegt nichts Ungewöhnliches. Es ist verboten, die Darstellung zu filmen und nach der Vorstellung hält mich die Platzanweiserin zurück und ich muss 6000 Tugrug (in Wahrheit bezahle ich nur 1500, denn das ist alles, was ich auf mir trage und nach einer Weile akzeptiert sie das auch) Strafe zahlen, doch es hat sich gelohnt.




 

Nach der Oper gehen wir auf einen Abschiedstrunk in eine Bar / Nachtclub und essen erst mal was, Hühnchen und Reis, man kann hier einfach überall essen. Es ist wohl das fünfte Essen am heutigen Tag, gleich viel wie gestern, was auch erklärt, warum ich heute keinen Kater und den Tag bis zum Abend trotz des beachtlichen Vodkakonsums einigermassen überstanden habe. Ganna kommt nicht mit, da er noch fahren muss, Djenna und ich trinken zusammen, reden über Frauen (er hatte nie besonders viel Glück mit Beziehungen und ist mit bald 40 noch ledig, was in der Mongolei gesellschaftlich ein echtes Problem darstellt, Freunde in seinem Alter und Bekanntenkreis haben schon über zehn Kinder), natürlich Dschingis Kahn, Sumo-Ringen, die wechselhafte Geschichte der Mongolei, welche stets ein Spielball zwischen den zwei Grossmächten Russland und China war. Ich sage ihm, dass die letzten zwei Tage zu den schönsten meines Lebens gehören und er tut das mit einer Handbewegung ab, ist aber sichtlich geschmeichelt. Am anderen Tisch sitzen angeheiterte Mädchen und kichern, wenn wir zu ihnen rüber schauen, wir passen hier nicht so richtig rein mit unseren staubigen Kleidern, die ziemlich stark nach Feuer riechen.




 

Zum Schluss bringe ich Djerra einen romanischen Trinkspruch bei, den ich mal in einem Klassenlager in Lawin gelernt habe, um den Mangel an kultureller Identität der Schweiz zu überbrücken, die in der Mongolei so endlos vorhanden scheint. „Viva la Grischa, vacaca a gamisha.“, „ein Hoch auf die Bündner, scheiss auf die Städter.“ Wir gehen die Strasse entlang, ein Nachtklub reiht sich an den anderen, gelegentlich unterbrochen von den sehr beliebten Karaokebars. Ein betrunkener Penner schreit mir etwas hinterher, ich verstehe nur „russki“. Djerra sagt, für die Mongolen sind alle weissen Ausländer Russen. Ja, denke ich, scheiss auf die Städter. Ich sitze in meinem Hotelzimmer und draussen erklingt ein Hupkonzert, das oft die ganze Nacht dauert. Ein Witz hier besagt, dass die Mongolen (die erst seit der Wende Anfang der neunziger Jahre im grossen Stil Auto fahren, was sich im übrigen noch an den alten, zu engen Strassen und den neuen, verbeulten Autos erkennen lässt) nie wirklich den Schritt von den freien Reitern zu den rücksichtsvollen Autofahrern gemacht haben.


2 Kommentare:

  1. Werter Landstreicher, vielen herzlichen Dank für deine eindrücklichen und persönlichen Einträge. Mögest du einem kleinen und erlauchten Kreis weiterhin von deinen Erlebnissen erzählen. Ich wünsche dir eine gute Reise.

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  2. Riesengroßes Dankeschön für die Erfahrungen die du mit uns teilst! Könnte ewig weiterlesen...

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