Dienstag, 14. September 2010

Tag 1 & 2, Moskau

Tag 1, Moskau

Bürokratische Unarten am Flughafen wie zu Soviet-Zeiten, danach eine Fahrt durch die merkwürdige Stadt, riesige Blöcke stehen alleine für sich, wie Burgen, dazwischen goldene Türme aus dem Märchenland, alles wunderbar heruntergekommen. Aargauischer Dresscode, Trainer, Turnschuhe und Topffrisur bei den Männern, umgekehrt proportional zur Verwahrlosung der Bartträger, die kühle Eleganz der Frauen, teilweise von solcher Schönheit, dass sie hinter der Supermarkttheke geradezu absurd wirken. Mein Fahrer mit goldenen Zähnen, Tätowierungen auf den Händen wie in Cronenbergs „Eastern Promises“ und 6 Wörtern deutsch aus der Grundschule und damit stolzer Besitzer eines Wortschatzes, der doppelt so gross ist wie mein russischer. Meine Antworten beschränken sich auf „da“ „choroso“ „spasibo“ und die Frage „gde“, gefolgt von irgendeinem Orts oder Strassennamen. Die Fahrt vom Flughafen dauert über zwei Stunden, die Strassen scheinen kreisförmig angeordnet und nie und nimmer hätte ich mich in ihnen zurecht gefunden, ganz zu schweigen davon, dass Fussgänger hier in ständiger Todesgefahr zu schweben scheinen.

In Irkutsk muss ich „Omul“ probieren, dem Fahrer zufolge das beste Gericht aller Zeiten, auch muss ich unbedingt ein paar Brocken russisch zu mir nehmen, sonst verhungere ich hier. Die Abschiedstrinkereien der letzten Wochen haben kognitive Löcher hinterlassen, die gelernten Brocken russisch sind sofort wieder vergessen, auch mit der kyrillischen Schrift komme ich nicht klar, das Land ist zu gross und mächtig um auf englisch oder lateinische Schriftzeichen angewiesen zu sein, eine Welt für sich. Eine Welt, in der selbst der Einweiser im Parkhaus eine Uniform trägt, die an Abzeichen und Tand reicher ist als die ausländischer Generäle. Einer Welt, die gross genug ist, um selbst mitten in der Hauptstadt nur alle 100 Meter ein Haus zu bauen. So sitze ich im zehnten Stock meines Hotels, welches eines von drei identischen ist, sie unterscheiden sich nur durch die Namen „alpha“ „beta“ „gamma“.

Tag 2, Moskau

Die Menschen hier lesen Bücher in der Metro, keine Gratiszeitungen und Kataloge, alte vergilbte Bücher, der Waggon gleicht einem Lesesaal. Besuch von Rotem Platz, Kreml und Lenins Mausoleum. Muss überraschenderweise nicht anstehen oder Eintritt bezahlen, nur den Fotoapparat abgeben. Lenin sieht grossartig aus, das Mausoleum düster, lange beinahe sakrale Gänge und bei jeder Abzweigung ein Soldat in Uniform, der einem den Weg weist. Als ich vor Lenin stehe, überkommt mich ein Schaudern und ich stecke meine Hand in die Hosentasche, worauf sie ein Soldat sofort wieder hinauszieht und ausdruckslos den Kopf schüttelt. In Lenins Raum riecht es süsslich, wie es beinahe überall hier leicht süsslich riecht, die Menschen haben einen eigenen Geruch, den vielleicht nur Aussenstehende wahrnehmen. Um das Mausoleum herum sind Büsten, Gagarin und auch Stalin sind darunter, muss recherchieren, ob er auch dort begraben ist.

Lenins Mausoleum

Nach meinem Kondolenzbesuch bei Lenin gehe ich durch die Stadt. Stundenlang. Gehen hat etwas Meditatives, die Grösse dieser Stadt ist unermesslich und selbst die heruntergekommenen Viertel beherbergen wunderbare Bauten. Offensichtlich sehe ich aus wie ein Russe, denn jedes mal wenn ich angesprochen werde, runzeln sie die Stirn, wenn ich meine mittlerweile zehn Wörter russisch ungeschickt aneinanderreihe, als wäre ich geistig minderbemittelt und nicht als wäre ich Ausländer. Nur die Taxifahrer scheinen mich als Ausländer zu erkennen, sie schauen auf meine Schuhe und nennen einen Betrag, der mir zu hoch erscheint, vielleicht liegt es an den Adidas-Streifen. Alles hier hat etwas Surreales, vom Handorgelspieler, der überdrehte, psychedelische Melodien zum Morgenessen spielt, über Kirchen, die aussehen wie das Disneyschloss, die Metrostation, die geschmückt ist wie ein Palast, mit Kronleuchtern, verzierten Wänden und Bronzestatuen, bis hin zum Mädchen, welches in der Metro neben mir steht, so nahe, dass es mir gut schweizerisch mulmig wird und ihren Kopf auf meine Schulter legt, um sich kurz auszuruhen und dann ohne sich umzudrehen bei ihrer Station aussteigt.

Komsomolskaya




Wachablösung beim Kreml




Kommunismus 2.0

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