Mittwoch, 15. September 2010

Tag 3, Moskau

Habe heute endlich das Metronetz durchschaut und fühle mich wie Marco Polo oder James Cook, das kyrillische Alphabet gleicht allerdings immer noch mehr einem Sudokuspiel, als einer Schrift. In der Nähe des riesigen Einkaufszentrums GUM frage ich einen Jugendlichen nach dem Weg, er sagt in einer Mischung aus deutsch, englisch und russisch, dass er Usbeke sei und legt auf diese Tatsache ungeheuren Wert. Weiss nicht, was er mir damit sagen will, das entscheidende Wort „arbi“, „arti“ oder „auti“ habe ich nicht verstanden. Vielleicht, dass er arm ist und gerne etwas zu essen hätte. Geld will ich ihm keines anbieten, obwohl er mich über einen Kilometer bis zur Station begleitet, viele hier fassen Trinkgeld als Beleidigung auf, also grinse ich, sage "spasibo", "dosvidanija" und gehe. Ich bin immer wieder überrascht wie weit man mit einem etwas verlegenen, entschuldigenden Lächeln kommt und wie hilfsbereit die Menschen sind. Ohne die Sprache wird man zum Mitläufer, weiss ich nicht, wo ich aussteigen muss, steige ich dort aus, wo die meisten aussteigen, ich rauche nur, wenn ich jemanden rauchen sehe, obwohl dies das Mutterland der Raucher ist, heute habe ich sogar Wort für Wort die Bestellung eines Jugendlichen am Nachbartisch nachgeplappert und bekam getrockneten Fisch zum Frühstück.

Ich empfinde nichts als Bewunderung für die Immigranten die Tag für Tag in die Schweiz kommen und erst hier wird mir bewusst, wie absurd die rechten Parolen in Wahrheit sind, hier bin ich Ausländer ohne soziales Gefüge, hier bin ich dankbar für jedes nette Wort, für jede Hilfe. Anpassung und schnelles Lernen der Gebräuche sind nicht eine Frage der Motivation, wie es die Bauernpartei immer darzustellen versucht, sondern eine Frage des Überlebens, ganz zu schweigen davon, dass ich hier eine freiwillige Immigration auf luxuriöser Ebene vollziehe und jederzeit abbrechen könnte.

Ich bin auf die Notwendigkeiten beschränkt; essen, trinken, schlafen (zu wenig), rauchen, nachdenken (zu viel), merke jeden Muskel, ich gehe viel mehr als ich müsste, heute bin ich eine halbe Stunde herumgelaufen, um einen Platz zu finden, die Distanzen sind enorm, auch wenn ich mich nicht verlaufe. Es gibt hier trotz der üblichen, reichlichen drei Mahlzeiten am Tag so gut wie keine übergewichtigen Menschen, weil schon der Weg zum Supermarkt einer Wanderung gleichkommt. Jetzt sitze ich in der Lobby und muss mich um Proviant kümmern, in zwei Stunden besteige ich die transsibirische Eisenbahn nach Irkutsk. Die Fahrt dauert etwa 78 Stunden, die Entfernung beträgt 5192 km, der grösste Teil der Reise an einem Stück. Die gesamte Strecke zwischen Moskau und Beijing beträgt um die 9500 Kilometer (ein Viertel des Erdumfangs!) und dauert zwei Wochen. Let's roll.


GUM

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