Donnerstag, 23. September 2010

Tag 5, Barabinsk

Die Nacht war unruhig, der Zug hat mich alle paar Stunden aufgeweckt, regelrecht wachgerüttelt. Dementsprechend übermüdet und überdreht kreischen die beiden kleinen Jungen aus dem Nachbarabteil, bis ein hünenhafter Kasache, von dem Lärm geweckt, etwas aus seinem Abteil schreit, was die Kinder sofort zum Verstummen bringt.

Die Landschaft wird zunehmend zur Steppe, die Dörfer gleichen der Anordnung nach Zeltlagern, auch wenn sie grösstenteils aus Holz und Blech gefertigt sind.




Nennt man Russland „die Kornkammer der Welt“? Irgendwie beunruhigend, wie stark mein Wissen von Google abhängig ist, jedenfalls sollte Russland so heissen, Kornfelder bis zum Horizont. Ich habe bis jetzt im Zug keinen einzigen Rubel gebraucht, selbst das Wasser, das die Provodnica verkauft, bekomme ich gratis aus einer Kanne. An einem winzigen Bahnhof mitten im Nirgendwo steigen wir kurz aus, ich merke die mangelnde Bewegung der letzten Tage und bin ziemlich wacklig auf den Beinen. Es sieht hier aus wie im Wilden Osten, Hühner, Hunde und angebundene Pferde auf der Strasse, Männer mit Flinten und Fellen, schlammige Strassen, Wasser wird mit einem Eimer durch einen langen Schacht aus der Erde gezogen. Mein Netbook ruft bei den Mitfahrern Irritation hervor, wohl aufgrund seiner geringen Grösse und prompt zeigt jemand darauf und murmelt einen Satz, der „malinka“, klein, enthält.

Es ist Abend und nach der unruhigen letzten Nacht, wollte ich sicher sein, diese Nacht durchzuschlafen, habe einem Mongolen am Bahnhof vier Bier abgekauft und bin schon ziemlich angeheitert, das Bier hier ist ausgezeichnet. Am Abend kommen die Gedanken. Was ich zurückgelassen habe, was vor mir liegt und auch wenn mir gewisse Dinge fehlen, eine Diskussion in einer mir bekannten Sprache etwa, komme ich immer wieder an den einen entscheidenden Punkt zurück; Ich tue genau das, was ich tun sollte. All die angefangenen Studiengänge, all die halbherzigen Versuche, Fuss zu fassen, all die Biere, all die langen Nächte, alles Zeitvertreib und zwar im eigentlichen Sinn des Wortes. Ich wollte die Zeit vertreiben, wollte sie weg scheuchen in die Zukunft, wenn ich sie brauchen würde, wollte das Jetzt möglichst schnell hinter mich bringen, um das Morgen zu sehen. Nun, ich sehe das Morgen. Hier, mitten in Sibirien, in einem Zug, während eine fünfzigjährige Babushka neben mir alte, russische Schnulzen im Stile von „Gone With The Wind“ im Fernsehen sieht. Ich glaube an Zeichen und alle Zeichen vor der Reise deuteten darauf hin, dass ich endlich meinen Weg einschlage. Von der an ein Wunder grenzenden Leistung meiner Assistenten, innerhalb eines Monats alle Visa zu kriegen, bis zum letzten, nordkoreanischen Visa, das mich mehr Nerven gekostet hat, als meine gesamte Schulkarriere zusammen oder die letzten Wochen vor der Abreise, in denen mir von allen Seiten gezeigt wurde, was ich zurücklasse, alles griff auf wundersame Weise ineinander.

Anzeichen in Form von Ausbrüchen gab es schon früh, Gran Canaria mit 15, mit dem Zug nach Lausanne oder Locarno statt nachmittags in die Schule mit 17, Flucht in die emotionale Nähe die Jahre danach. Paris, Dublin, Genua in jüngster Zeit und immer wieder Weggefährten, mit geteilter Seele, ruhelose Geister, Nachtgestalten, die im geregeltem Lebenswandel keine Erfüllung fanden, der sie sogar ganz im Gegenteil ständig daran erinnerte, was hinter dem Horizont für Reichtümer und Abenteuer warten könnten. Dieser Antrieb, alle aufgebaute Sicherheit niederzureissen für ein paar Momente des Glücks, für ein paar Momente Leben, für diesen einen Moment, in dem alle Emotionen, alle Ängste, alle Hoffnungen zusammenkommen und man weiss, dass man ist, unterscheidet die Nacht von den Tagmenschen. Von solchen Momenten zehrt man noch Jahre, man stellt sie in sein persönliches Museum des Geistes, welches zwei Bier Eintritt, sowie einige Stunden der Musse kostet.

Ohne diese Momente könnte man nicht von Leben, könnte man nicht von Menschsein sprechen, es wäre „like drinking from an empty cup“, wie Damien Rice sagen würde. Die Prunkstücke dieser Sammlung sind die Erinnerungsstücke, für die man einen hohen Preis zahlen, sich selbst überwinden musste. Ein Mädchen ansprechen, trotz der Angst abgewiesen und gedemütigt zu werden, bei einer drohenden Schlägerei stehen zu bleiben und nicht zu schlichten oder sich herauszuwinden versuchen, trotz Höhenangst aus einem Flugzeug zu springen. Die Momente, in denen man wirklich etwas zu verlieren droht, nicht etwa nichtige Dinge wie Geld oder Gesundheit, sondern Würde, Verstand und das Wichtigste, sein in den meisten Fällen überhöhtes Selbstbild. Vor einem Jahr wollte ich diese oder eine ähnliche Reise schon einmal machen, hatte aber ganz einfach gesagt nicht die Eier dazu. Alles war angenehm, mit meinen Wohngefährten verstand ich mich so gut, wie man sich mit Menschen verstehen kann, das Studium mäandrierte träge, ohne Stromschnellen dahin. Eine Phase der Ruhe, des Daheimseins, die mir, weil lange nicht gehabt, aufregend und schützenswert erschien und die, als wäre sie ein Ball im All, einmal angetrieben, ewig so hätte weiter treiben können. Je länger, je mehr reichte mir das nicht, ich trank, schlief, feierte zu lange und oft, wurde träge, beinahe unmöglich aus der Fassung oder in einen Zustand der Begeisterung zu bringen. Wenn ein hübsches Mädchen neben einem im Bett liegt und es einem wirklich von Herzen egal ist, ob jetzt was geht oder nicht, wenn einem sogar diese Anstrengung zu viel ist, merkt man, dass man etwas ändern muss. Wenn man vermeintlich alles gesehen hat, muss man Dinge sehen, die man nicht kennt. Man könnte sagen, diese Reise ist die Suche nach meiner Begeisterung, ohne die ich nichts bin als ein römischer Kaiser, der lustlos und dekadent an Trauben knabbert, während vor ihm die Schlachten toben. Ironischerweise kam eben diese Begeisterung in den Wochen vor der Reise zurück, alles und alle waren aufregend, ich sog mich voll, für die dürren kommenden Monate.

Tatjana schaut aus dem Fenster und murmelt „Novisibirsk“ , eine Stadt von beachtlicher Grösse, wenn man bedenkt, dass rundherum nur Wälder und Moore zu finden sind. Kilometerlange Plattenbauten, eine Wand aus Lichtern, jedes Licht ein Leben. Es scheint, als hätte unter Stalin ein Architekt die Idee für ein solches viereckiges Monster gehabt und seither niemand mehr eine neue. Vor dem Einschlafen erläutern wir die Theorie, dass körperlich kleine Präsidenten und Staatsführer oftmals nicht die Besten sind, ich erwähne Napoleon und Hitler, sie Stalin, Putin Medwedew. Ich stutze und lache nur, auf staatskritische Äusserungen will ich mich nicht einlassen. Schon ein paar Stunden zuvor, als wir an einem Bahnhof hielten, zeigte Tatjana auf die vielen Soldaten und schnaubte hörbar ironisch und mit heraufgezogenen Augenbrauen „Demokraci.“


2 Kommentare:

  1. bin heute nur bis hierhin gekommen. gute texte, vor allem der hier. bis jetzt.
    dich jetzt zu fragen, wie es dir geht, ist nicht nötig, da ja vieles niedergeschrieben wurde. trotzdem schien mir der eintrag sonst zu kurz. jetzt ist er lange genug, denke ich. viel spass noch.

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  2. du weisst, besonders mir macht lesen kein spass. doch diese eindrücke und anekdoten verschlinge ich mit freuden, wenn auch nur mit 100 wörter in der minute. gutes weiterreisen und bestes gelingen auf deiner suche
    aka zirpauzio

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