Donnerstag, 23. September 2010

Tag 4, Transsibirische Eisenbahn Moskau – Irkutsk

Was macht man 3 Tage in einem 2x2m Raum? Zunächst einmal schläft man sehr viel, an die 16 Stunden am Tag, durch die Enge des Raums, das vibrierende Rütteln des Zuges und die hohe Raumtemperatur fällt man in eine Art embryonales Stadium zurück. Es ist Herbst geworden, endlose rot/gelb/orange/grüne Wälder ziehen am Fenster vorbei, Stunden vergehen ohne ein Anzeichen von Zivilisation.



Eine seltsame Ruhe breitet sich aus, der Zug schlenkert gemächlich dahin, vielleicht mit 70 km/h. Das einzige Geräusch ist das Klicken der Schienen und das Gelächter zweier russischer Knaben, die mit Transfomers-Figuren spielen. Die in den Medien erwähnten Waldbrände um Moskau müssen gewaltig gewesen sein, verbrannte Erde bis zum Horizont, Lindenstämme ragen wie Knochen aus dem öden Land.

Der Höhepunkt des Tages ist zweifellos das Essen. Nach russischer Sitte breiten alle ihr Essen auf dem Tisch aus und es wird genossenhaft geteilt, jemand bringt Wurst aus dem Nachbarabteil, ein anderer Gurken, ich wünschte ich hätte etwas aus der Schweiz dabei, Olma-Bratwurst oder zumindest Landjäger, ohne dieses Teilen hätte ich mich von Nudelsuppe und Oliven ernährt. Mitten im unendlichen Wald sieht man Dörfer, Tatjana sagt, das sind die Behausungen der Ölbohrer. Ich höre Kurzgeschichten von F. Scott Fitzgerald und nicht zum ersten Mal denke ich, dass es unsere Zeit schon einmal gab, nur ist das Brüllen der Roaring Twenties einem resigniertem, gezähmten Schnurren der Nullerjahre gewichen, die schon alles gesehen haben. Ich träume von zuhause in der Nacht, tagträume aber von den Orten, die ich noch besuchen werde. Angkor Wat in Kambodscha, das Arirang-Festival mit 150'000 Tänzern in Nordkorea, der Sommerpalast in Lhasa, die Papierstrasse in Indien und falls das Geld noch reicht, zum Abschluss das Hyatt in Tokyo, Lost In Translation Redux.

Habe zu viele Rubel raus gelassen in Moskau, weil ich mir als Selbstversorger nicht getraut habe und hoffe, dass ich die in der Mongolei oder China umtauschen kann. Es ist merkwürdig, völlig von sich selbst abhängig zu sein, macht man einen Fehler in der Planung, hat man zu wenig zu essen oder verpasst den Zug am nächsten Tag oder in einer Woche. Ich habe den Tag in Einheiten aufgeteilt, der erste Teil besteht darin, die Grundbedürfnisse zu versorgen, alles so zu verstauen, dass ich es ohne langes Suchen wieder finde und die nächsten Tage zu planen.

Die zweite Einheit hat die mentale Gesundheit zum Ziel; Nachdenken, Rauchen, Bier trinken, Lesen, Schreiben (was mir noch nie so leicht gefallen ist, es ist mir schon beinahe ein körperliches Bedürfnis und momentan das, was einem Gedankenaustausch am Nächsten kommt. Natürlich kommen so keine literarischen Perlen zum Vorschein, eher ein Stream Of Consciousness, wie die vorliegenden Zeilen beweisen. Auch hilft meiner Neigung zu langen, eher überladenen Sätzen die Tatsache nicht, dass ich möglichst schnell, möglichst viel schreiben muss, weil die Akkuzeit des Netbooks begrenzt ist).

Der dritte Teil ist Geniessen, Staunen, Photographieren, Beobachten, der Teil, an den ich mich immer wieder erinnern muss, denn es fällt schwer, den Drang etwas tun zu müssen oder die Besessenheit, nichts vergessen zu haben, für einige Stunden der Musse aufzugeben.

Tatjana und ich haben mittlerweile ein System zum Reden entwickelt. Sie plappert wie immer vor sich hin und wenn ich ein Wort verstehe, rufe ich „da, da!“, dann hält sie den Finger auf eines der Wörter im Übersetzungsteil meines Reiseführers oder zeichnet etwas auf einen Block. Gerade hat sie Pushkin gezeichnet (mit Bart), dann Bulgakow (mit wirren, phantastischen Wellen, die aus seinem Kopf strömen), davor Kavka (mit herunterhängenden Mundecken :(. Von angelsächsischen Schriftstellern hält sie nichts, von Shakespeare einmal abgesehen, Goethe und Schiller bezeichnet sie als Genies, wohl auch um mich nicht zu kränken. Gerade sind wir am Bahnhof Perm angekommen und auf dem Gleis nebenan hält ein Zug aus Ulaan Baator, dutzende mongolische Händler steigen aus, verkaufen Kleider, Felle und Getränke.




Die Landschaft ist unglaublich, Russland ist ein grosser Wald. Wir verbringen den Abend damit, auf meinem Netbook klassische Musik zu hören und auf die dazugehörenden, visuellen Effekte vom iTunes zu starren. Das einzige Geräusch neben der Musik sind unsere gelegentlichen Ausrufe, „ah, Tschaikovsky!“, „ah Rachmaninov, choroso“.

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