Sonntag, 24. Oktober 2010

Tag 24, Pjöngjang (Nordkorea)

Es folgt der vielleicht schrägste Tag in meinem Leben. Er beginnt damit, dass ich auf einem Platz, wo die Koreaner hingehen, um sich zu entspannen eine Zigarette rauche, keinen Abfalleimer finde, überall Zigarettenstummel auf dem Boden sehe und, wie aus China gewohnt, meine Zigarette auf den Boden werfe und austrete. Drei Sekunden später taucht ein Parteimitglied mit Pin und braunem Trainer auf, schreit auf mich ein. Ich habe einen Kater, schaue ihn wütend und trotzig an, weiche nicht zurück, obwohl er mich drängt. Der Reiseleiter geht dazwischen, ich entschuldige mich halbherzig. Der Rest der Gruppe ist im Bus, bekommt davon nichts mit, der Reiseleiter muss seinen Ausweis zeigen und ein Formular ausfüllen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, entschuldige mich bei ihm, will nicht, dass er Probleme bekommt. Er fragt genervt, ob es in meinem Land normal sei, seinen Müll überall hinzuwerfen, ich schüttle errötend den Kopf. Im Bus sagt eine seiner beiden Assistentinnen ins Mikrofon, man solle keinen Müll auf die Strasse werfen. Die Gruppe hat die Szene nicht mitbekommen und nickt nur zustimmend, denn es ist nicht die erste Regel, die man uns hier aufträgt. Ich bin froh, wird mein Name nicht genannt, denn wegen mir und der Szene müssen wir fast ein halbe Stunde warten, damit mein Verbrechen auch korrekt protokolliert werden kann.

Wir besuchen eine riesige Bronzestatue von Kim Jong Il, davor sind hunderte Menschen und putzen auf den Knien den Betonboden, was meine Wut nur noch grösser werden lässt. „Der Führerkult ist zu respektieren“ steht im Reiseführer des Alten neben mir, was das bisherige Verhalten der Gruppe ziemlich gut auf den Punkt bringt.









Nach einem Besuch in einem Krankenhaus fragen sich alle, ob das Krankenhaus echt ist. Es hat fast keine Patienten, die Ärzte und Patienten wirken wie Schauspieler, scheinen nicht genau zu wissen, was sie tun. Ein Österreicher in unserer Gruppe ist Arzt und sagt, die Geräte seien zwar alt, aber authentisch. Ganze Stöcke des Krankenhauses sind leer, die meisten Detailfragen nach Ärzte- und Patientenzahl werden nicht beantwortet. Der Südafrikaner und ich beobachten, wie bei einer Patienten aus Versehen die Saugnäpfe vom Rücken fallen, ohne dass auf der Haut Saugspuren zurückbleiben, auch werden sie einfach wieder zurückgestellt, ohne platziert oder mit Druck versehen zu werden, genau so gut könnte man ihr ein leeres Wasserglas auf den Rücken stellen.





Die Bibliothek ist riesig und hat scheinbar über 30 Mio. Bücher, allerdings sind fast keine Leser darin. Man zeigt uns deutsche Bücher über Tiere und Pflanzen, die Audiosammlung, wo man „Yellow Submarine“ von den Beatles laufen lässt. Mit der einen Assistentin versteh ich mich ganz gut und sie fragt mich, ob das neue Musik sei, hat noch nie etwas von den Beatles gehört. Es gibt diese Geschichte, die bei den Reisenden herumgeht, wonach nordkoreanische Spione in den achtziger Jahren anhand von Beatles-Platten englisch gelernt hätten und bei ihren Missionen im Ausland immer sofort enttarnt wurden, weil sie Wörter wie „groovy“ und anderen sechziger Jahre Slang verwendeten. Vom Dach der Bibliothek sieht man auf den Platz, wo am 10.10.10 wahrscheinlich die grosse Parade stattfindet. Hunderte, tausende von Menschen üben Choreographie, es ist verstörend und faszinierend zugleich.










Draussen unterhalte ich mich mit Yvott, dem Südafrikaner. Ich frage, weshalb er am Zoll so auseinandergenommen wurde. Er antwortet, dass er Bibeln ins Land bringen wollte, um sie zu verteilen und die Zollbehörden sie, ziemlich wütend, konfisziert haben. Er fragt, ob ich an Jesus glaube, ich sage etwas zu bestimmt nein. Er sagt, er habe Jesus gefunden und dieser habe sein Leben verändert. Er ist mir sympathisch und mir kulturell nicht so ähnlich wie der Rest der Gruppe, von denen die meisten direkt aus Deutschland kommen und nach Nordkorea wieder dahin zurückgehen. Man merkt, dass sie noch voll in ihrem deutschen Leben sind. Yvott hingegen ist auch schon länger unterwegs, also lasse ich ihm die Jesus-Sache durchgehen, lasse aber durchblicken, dass Missionierungsversuche bei mir nicht fruchten werden und er scheint das zu respektieren. Es lohnt sich, er erzählt von seinem Job als Ingenieur. Er plant Atomkraftwerke und arbeitet an einem Projekt, das zum Ziel hat, auch kleine Städte mit entsprechend kleinen Atomkraftwerken zu versorgen, um den durch die langen Stromleitungen entstehenden Energieverlust auszuschalten.

Endgültig unwirklich wird die Situation, als wir einen Kindergarten besuchen. Ein riesiges Gebäude, in jedem Zimmer kommen uns Scharen von Kinder entgegen gerannt, nehmen uns an den Händen, führen uns zu ihren Spielzeugen, wollen Bauklotzschlösser mit uns bauen, mit uns tanzen, singen, führen perfekte Ballettstücke auf, zeigen uns ihren riesigen Pool, ihren Raum mit ausgestopften Tieren und ohne, dass ich recht merke, was mit mir geschieht, falle ich darauf herein, fühle mich wohl hier, das hungernde Land erscheint als sozialistisches Paradies. Eine isolierte Insel, in der die Menschen keine Steuern und Miete zahlen, gratis zur Schule gehen und von den Verlockungen und Verirrungen des Westens verschont geblieben sind. Eine perfekte Inszenierung mit Schauspielern, die man unmöglich für Schauspieler halten kann, denn sie sind erst sechs Jahre alt. Nach der Abschlussvorführung setzt sich einer der Alten, ein pensionierter Richter aus unserer Gruppe an das Klavier und spielt grandios ein Stück von Strauss, die Kinder und Betreuer klatschen. Danach fragen sie, woher er das könne, ob er auch an einer Spezialschule war und er antwortet nur lakonisch „I'm from Vienna.“ Ich kehre in die Realität zurück, als mich eines der Ballettmädchen an der Hand nimmt und ich Wimperntusche und Lippenstift in ihrem Gesicht entdecke. Das ganze Land ist eine grosse Aufführung. Es verwirrt mich viel mehr, als ich erwartet hätte. Ich bin ein aufgeklärter Mensch, habe mich mein halbes Leben mit Filmen und Texten aus Diktaturen auseinandergesetzt und doch war ich nicht auf die einfachste Erkenntnis vorbereitet, die mich hier wie ein Schlag trifft; Es sind Menschen. Keine Ideologien, keine verrückten Führer, keine Flaggen, keine Paraden. Menschen.













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