Montag, 18. Oktober 2010

Tag 19, Beijing

1. Oktober, Nationalfeiertag. Man kann sich nicht vorstellen, wie viele Leute auf einen Gehsteig, in einen Bus, eine U-Bahn, ein Restaurant passen, wenn man nicht an einem Feiertag in Beijing war. Aus dem ganzen Land kommen Menschen hierher, schon vom Morgen an liegt dichter Smog über der Stadt, manchmal ist er so stark, dass man nur 50 Meter weit sehen kann. Leute kollabieren in den Unterführungen und Metrostationen, die ganze Stadt ist ein Geschiebe, Geremple, Gefluche, Gespucke aber auch Gelächter und Gesinge.






Durch einen unglaublichen Zufall treffe ich, Musik hörend und durch die Menge treibend, Ruth und Chris aus dem Zug vor einer U-Bahnstation. Die Wiedersehensfreude ist gross. Alle haben das Bedürfnis, aus der Masse raus zu kommen und so gehen wir in meine Hood (-ong), zu meiner alten Dame essen. Es ist bemerkenswert, nur ein paar Schritte weg von der Hauptrasse in meine Gasse und es ist ruhig, beinahe verschlafen, von der Grossstadt in ein Dorf in ein paar Minuten. Die Alte freut sich sichtlich, dass ich ihr Kundschaft bringe und fährt grosses Geschütz auf, Leber mit Chili und Reis, dazu einen ganzen Fisch, der immer noch in der Pfanne kocht. Chris fühlt sich schon seit ein paar Tagen nicht wohl, hat die halbe Nacht auf der Toilette verbracht und der uns aus erloschenen Augen anschauende Fisch mit Chili überwältigt ihn geradezu. Er isst etwas Reis, während Ruth und ich zuschlagen. Ich berichte der Alten von Chris Problemen und sie bringt denselben scheusslichen Tee, den ich vor ein paar Tagen getrunken habe und schaue amüsiert zu, wie Chris ihn hinunter würgt. Ruth und Chris streiten sich wegen irgendeiner Nichtigkeit, vielleicht auch nur, weil ihnen bewusst wird, dass sie morgen ihn ihr richtiges Leben zurück müssen und nicht zum ersten Mal bin ich froh, alleine zu reisen. Vor der Abreise hatte ich Angst vor der Einsamkeit, bisher ist eher das Gegenteil der Fall. Auch wenn die Gespräche oft nicht allzu tiefgründig sind, ist immer jemand da, mit dem man plaudern kann, oft mehr als einem lieb ist. Die Momente der Ruhe und Einsamkeit sind selten und kostbar. Was ich vermisse, ist die Selbstsicherheit, die man nur als Bürger im eigenen Land hat, die Freiheit, sich daneben zu benehmen und die Grenzen des Möglichen klar zu kennen.

Weg von den Massen gehen wir zum Himmelspalast, einer wunderschönen, englisch anmutenden Parkanlage. Die Leute schlendern gemütlich, Katzen überall, aus dem Wald dringen wunderschöne Klänge. Zwei Alte musizieren in einem Torbogen.




















Das Licht ist schon den ganzen Tag merkwürdig zwielichtig. Die Luft riecht, als würde in der Nähe ein grosses Feuer toben. Ich denke schon den ganzen Tag, mein rauer Hals komme von der Raucherei, aber ich glaube es liegt an der schlechten Luft. Eine Stunde früher als gewöhnlich wird es dunkel, wahrscheinlich hat es nichts mit der schwindenden Sonne zu tun, der Smog wird einfach dichter. Wir gehen zur U-Bahn, verabschieden uns herzlich, ich wünsche ihnen einen guten, jetlagfreien ersten Tag am Montag im Büro und denke zum ersten Mal, wie weit Europa, Montagmorgen, Wochenende, Vortrittlassen, Rauchverbot, Sarkasmus, ja nur schon Schweizerdeutsch von mir entfernt sind. Als hätte es die 27 Jahre in der Schweiz nie gegeben.
Ich döse in meinem Zimmer vor mich hin, höre die letzte Kurzgeschichte der „Drei Stunden zwischen zwei Flügen“ von F. Scott Fitzgerald, die ich mir wie einen Schatz aufgehoben habe, als es an die Tür klopft. Mike und ein Schwede namens Arvid stehen da, fragen, ob ich auf ein Bier mitkomme. Gestern habe ich diese heruntergekommene Kneipe mit erstaunlich grosser Bierauswahl entdeckt, sie haben sogar Tuborg da, also gehen wir dahin. Arvid ist heute erst angekommen und fliegt morgen nach Nordkorea, um das Arirang-Festival zu sehen und danach wieder zurück, was mich natürlich sehr interessiert. Wir tauschen gelesene Gerüchte und Geschichten über Kim Jong Il und seine Kinder aus, die gerade gestern zu Generälen ernannt wurden. Er sagt, dass ich mein Natel hier lassen soll, wenn möglich, es werde am Zoll konfisziert und manchmal bekomme man es nicht zurück. Auch soll ich vorsichtig sein, sein Reisebüro habe ihn gebeten, ein Paket aus Nordkorea zurück nach Schweden zu bringen und ein Freund von Arvid, der dies letztes Jahr gemacht hat, habe am Zoll gemerkt, dass es nordkoreanische Propaganda enthielt, deren Ausfuhr strengstens verboten, aber in gewissen Kreisen teuer und begehrt ist.
Es ist ein spezielles Gefühl, Teil dieser Reisegemeinschaft zu sein, in einem Beijinger Hinterhof Reisetipps auszutauschen. Arvids erste Asienreise war vor zehn Jahren, während der er auch Mike kennengelernt hat. Zum Abschied stimmen wir darin überein, dass Reisen in diese Region der Welt ein ungeheures Suchtpotential bergen. So wohl ich mich auch in meinem Hutong fühle, so stark merke ich auch das Bedürfnis, weiter zu ziehen. Ganz nebenbei eröffnet mir Mike, dass ich morgen um fünf Uhr in der Früh vor seiner Haustüre stehen soll, weil wir uns auf die Reise zur grossen Mauer machen werden.

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