Sonntag, 24. Oktober 2010

Tag 22, Beijing

Wir gehen in Mikes alte Nachbarschaft auf einen Markt. Ich kaufe ein paar neue, alte Hosen für 2 Franken, da ich keine Zeit habe das andere Paar zu waschen. Auf dem Markt gibt es alles und wie immer steuern wir auf die Antiquitätenläden zu und da passiert es. Ich habe Mike erzählt, dass ich bisher von jeder längeren Reise eine Statue mitgebracht habe und er die Augen offen halten soll. Wie alle guten Läden von aussen unscheinbar, finden wir, versteckt hinter falschen Vasen, eine weisse Marmorstatue. Ich bin kein Experte, aber mit der Übung der letzten Tage sehe auch ich, dass hier etwas Besonderes vorliegt. Wunderbar geschnitzt, als guter Anhaltspunkt eignen sich immer die Füsse, weil der Künstler für sie Erfahrung und Feingefühl braucht, sie sind perfekt. Jedes Detail ist wunderbar ausgearbeitet. Ich nicke Mike zu, versuche nicht allzu begeistert auszusehen, um den Preis niedrig zu halten und für 500 Yuan bekomme ich sie.






Kaum sind wir draussen, beginnt die Diskussion, er habe eine wunderschönen Bronzebuddha, den er gerne für meine Göttin eintauschen würde, die Statue gehe doch bei der Verschiffung nach Europa kaputt, ich nicke nur unbestimmt. Schon länger bin ich der Überzeugung, dass die schweizer Mentalität gut zur chinesischen passt, beide mäandrieren um klare Positionen herum, bleiben gerne unbestimmt, euphemistisch, verniedlichen, verlieren sich in Höflichkeiten, streuen Witze und Belanglosigkeiten ein, um die Schärfe zu nehmen. Eigentlich hat er mich in der Hand, er hat verhandelt, ohne ihn wäre ich nie in diesen Laden gekommen. Ich will ihn nicht verärgern und auch er betont, wenn mir so viel an der Statue liege, würde er sie mir gerne geben, schliesslich seien wir Freunde. Doch beide wissen voneinander, dass der Andere regelrecht von der Statue besessen ist, so etwas hat weder er noch ich je auf einem Markt gesehen. In diesem Zusammenhang habe ich etwas gelesen, dass sich hier schon oft als wahr entpuppt hat;

China ist im Gegensatz zu westlichen Staaten eine "High Context Culture". Das bedeutet, dass auf schriftliche Verträge weniger Wert gelegt wird und eine persönliche, freundschaftliche Beziehung zum Geschäftspartner von extremer Bedeutung ist. In China kommt es auch zu einer viel stärkeren Vermischung von Privatem und Geschäftlichem als in westlichen Kulturen. Im schlimmsten Fall kann dies bedeuten, dass der chinesische Geschäftspartner den westlichen Partner am Ende der Verhandlungen ohne moralische Bedenken austrickst, da keine persönliche Beziehung aufgebaut wurde. Im besten Fall kann es dazu führen, dass ein chinesischer Partner ein äußerst lukratives Angebot eines Konkurrenten ausschlägt, um die gute Beziehung nicht zu gefährden.

Als sich das Gespräch zu einer Entscheidung zuspitzt, lenke ich ab, indem ich vorschlage, essen zu gehen. Zum ersten Mal in China esse ich Fondue Chinoise in Mikes Lieblingsladen, soviel Bier, Fleisch, Pilze, Fische, Nudeln, Meeresfrüchte wie man runter bekommt. Schon seit einigen Tagen, rät mir Mike, prophylaktisch möglichst viel zu essen, um für das hungernde Nordkorea gerüstet zu sein. Nach seiner Vorstellung leben die Menschen dort noch in Höhlen. Wir sitzen etwa drei Stunden und zum ersten Mal in diesem Land bin ich richtig satt. So gut das Essen hier ist, nahrhaft ist es nicht, fast keine Kohlenhydrate, viel mageres Fleisch, Gemüse, Suppe, was sich bemerkbar macht, seit meinen Teenagerjahren war ich nicht mehr so dünn.



Wie eigentlich immer, wenn ich durch die Strassen gehe, winken Kinder, schauen mich gross an, sagen „hello“. Man sagt ja, Kinder wären überall gleich. Das ist einfach nicht wahr. Die Kinder hier sind fröhlicher, natürlicher und vor allem selbstständiger. Von den reitenden Nomadenkinder in der Mongolei bis zum vielleicht vierjährigen Mädchen, dass den Boden im Coiffeursalon der Mutter wischt. Auch der Umgang ist normaler als bei uns, die Kinder sind überall, selbst in Beijing laufen sie im Viertel teilweise frei herum, können ihre Welt selbst erkunden. Heute morgen hat mir ein vielleicht sechsjähriges Mädchen den Weg zu einem Laden gezeigt, woes meinen geliebten Joghurtdrink gibt, nahm mich einfach an der Hand und führte mich hin. In Zürich hätte man sie da schon zur Fahndung ausgeschrieben und ich wäre als Kidnapper oder Pädophiler gelyncht worden. Aufgrund der chinesischen Familienpolitik sind es meist Einzelkinder und man merkt auch bei den Erwachsenen, dass ihnen Teilen nicht im Blut liegt. So schaut mich Mike immer etwas verblüfft an, wenn ich im Zug mein Essen den anderen Fahrgästen geradezu aufdränge, wie ich es mir in Russland und der Mongolei angewöhnt habe. Auch die Fahrgäste wissen nicht so recht, wie sie mit meiner Freigiebigkeit umgehen sollen, die vor allem zum Ziel hat eine gute Atmosphäre zu schaffen, denn ablehnen gilt als grob unhöflich, also gibt es Szenen wie die Folgende; Ich gebe einem Mitreisenden eine Zigarette, er gibt mir später eine zurück, ein Anderer steigt ein, weil er denkt, dass man das in meinem Land so macht und nicht als ungebildet erscheinen will und so sind in meiner Packung immer mindestens drei verschiedene Sorten. Oder jemand schenkt mir ein Feuerzeug im Gegenzug für das sehr begehrte schweizer Kleingeld, das wie vieles aus der Schweiz von einer Art Mythos umgeben ist, muss mich aber den Rest der Fahrt um Feuer bitten.

Wir gehen zu Mike nach Hause (welches wie ich erfahre etwa 500 Yuan also um die 70 Franken Miete im Monat kostet, ein Umstand der mich die Preise hier endlich ins richtige Verhältnis rücken lässt) und trinken Tee. Um die Entscheidung über den Besitzer der Statue nicht fällen zu müssen, lege ich sie dicht neben, nicht aber in die Kiste, welche ich in die Schweiz schicken möchte.

Beide sind froh, die Statue nicht mehr zwischen uns zu haben und wir gehen auf einen riesigen Lebensmittelmarkt. Dort hat Mike sein Teemädchen. Sie sieht auf den ersten Blick aus wie 17, wie so viele der Mädchen hier, auch wenn sie doppelt so alt sind. Sie ist 22 und es ist ihr Laden. Das Land wird von Frauen geführt, Frauen und jungen Menschen. Vorhin waren wir auf der Post, um ein Formular zu holen, sie wird von einer Gruppe Jugendlicher um die 20 geleitet. Das Mädchen gefällt mir, wir trinken Tee, lachen viel, schauen uns neugierig an, während Mike irgendwo herum streift. Am Schluss kaufe ich viel mehr Tee, als ich eigentlich wollte. Kein Wunder hat sie ihren eigenen Laden.








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