Samstag, 2. Oktober 2010

Tag 16, Beijing

Zwischen den Bergen und Tunneln, die der SBB-Strecke ins Tessin gleichen, wird einem das gewaltige, wirtschaftliche Potential Chinas vor Augen geführt. Ich fahre über 5 Stunden durch ein Industrieviertel, das grösser als der Kanton Zürich ist. Ich muss schmunzeln, wenn ich an die Angstkampagnen der SVP denke. Womit sollen uns die so gefürchteten Jugoslawen schaden, mit schlechten Frisuren und geleasten BMWs? Hier ist eine Macht spür- und unübersehbar, die alles Dagewesene und Vorstellbare übersteigt, Beijing alleine hat 17 Mio. Einwohner und ist eine grosse Baustelle, baut unbeirrt daran, die Zukunft zu beherrschen.

Mike (eigentlich Ma weiguo), ein Bekannter meines Assistenten, hat mich unerwarteterweise vom Bahnhof abgeholt, zeigt mir die wunderschöne Stadt, wir essen ausgezeichnet, ich gewöhne mich wieder an die Stäbchen. Eine Stadt aus Licht, eine Stadt, die niemals schläft. In vier Tagen, am ersten Oktober, ist Nationalfeiertag, Tag der Gründung der kommunistischen Partei Chinas. Aus allen Provinzen werden Leute kommen, es wird noch voller, als es ohnehin schon ist. Mike verabschiedet sich, geht wahrscheinlich heim zur Familie, zu den vorgeschriebenen 1 1/2 Kindern.





Vor der verbotenen Stadt spricht mich ein Mädchen an, sie ist charmant, spricht gut englisch, sagt sie sei Kindergärtnerin. In einem Coiffeur-Salon treffen wir einen israelischen Glatzkopf, der mir versichert, sie sei die beste Frau in Beijing, ich glaube ihm. Sie sagt einen Satz, der mir für die Situation in China irgendwie treffend erscheint; „Chinese girls use to be shy. We not shy anymore.“ In einer Seitenstrasse besuchen wir eine Bar, abgeteilt in einem schönen Raum. Sie singt für mich, wir tanzen, sie bestellt Bier, fragt, ob sie ihre Nachbarn anrufen soll, ich nicke ergeben. Bald gesellen sich zwei junge Chinesen zu uns. Danach wird alles etwas verschwommen, im 5-Minuten Takt kommt die Bedienung, bringt Bier, Reisschnaps, Bier, Reisschnaps, Bier, Bier, Reisschnaps, Bier, Reisschnaps, Bier und zum Schluss Rotwein. Sie exen alles, obwohl ich ihnen beizubringen versuche, dass man Rotwein nicht auf Ex trinkt, Nach einer Weile bin ich über alle Massen betrunken, wir singen Karaoke, Elton John, Emilia, Ashley Simpson, Westlife, Eagles. Ich gröle sogar chinesische Lieder mit. Wir trinken und trinken, alles auf Ex, liegen uns in den Armen, dazu gibt es Melonenschnitze, Salzgebäck und Tee.



Die Ernüchterung kommt mit der Rechnung. In einem sentimentalen Anfall habe ich meine Kreditkarte der Kellnerin gegeben. Die Jungen tun es mir gleich, sagen wir teilen durch drei. Auf der Rechnung steht etwas von Chf. 475, ich nehme das Mädchen zur Seite und frage sie, was da soll. Sie sagt, das habe nichts zu bedeuten, sie seien Chinesen und würden nie zu viel bezahlen, ich solle mir keine Sorgen machen. Mike hat mir schon beim Essen erklärt, dass man hier kein Trinkgeld gibt, Chinesen wollen den Preis immer nach unten und nicht nach oben treiben. Sie fragt, ob ich mit in ihre Wohnung gleich um die Ecke kommen will, nach der Rechnung habe ich ein schlechtes Gefühl und sage, ich sei zu betrunken und wolle nach Hause gehen. Ich habe das Gefühl, genau so verarscht worden zu sein wie es im Reiseführer steht und wie mich Mike gewarnt hat und nicht zu knapp, Jahjah fährt mich mit dem Roller nach Hause. Er und jeder, dem ich meine Zimmerkarte zeige, ist überrascht, die Karte sehe nicht nach einem Hotel aus, das Ausländer aufnimmt.


 

Ich schaue online meinen Kontostand an, Facebook, Youtube, Blogspot werden von der „Great Firewall“ der chinesischen Regierung geblockt, die ZKB jedoch nicht. Die Ausgaben in Beijing werden noch nicht angezeigt, Gnadenfrist. Durch das Moskitonetz des Hotelzimmers miauen Katzen und reden Leute. Ich fühle mich hier zuhause, nach all den gehetzten Aufbrüchen im Morgengrauen ist es beruhigend für die Seele, ein paar Tage am selben Ort bleiben zu können.


Das Schöne am Reisen ist, dass man Zeit hat, die ganze heruntergeladene Musik auf dem iPod auch wirklich zu hören und so stösst man in der Mitte der Nach auf Zeilen, welche die eigene Situation unerwartet klar auf den Punkt bringen, wie etwa die von The National:

And now I'm sorry I missed you
I had a secret meeting in the basement of my brain

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen