Freitag, 8. Oktober 2010

Tag 17, Olympisches Dorf und Sommerpalast


Ich erwache mit einem Monsterkater und als ich Mike von der Nacht erzähle, sieht er mich mit einem Blick an, der wohl „ich habs dir ja gesagt“ ausdrücken soll. Er reitet aber nicht länger darauf herum, wofür ich ihm äusserst dankbar bin. Wir essen gut und scharf und besuchen dann eine riesige Tempelanlage. Es hat Mönche und entgegen dem Bild, das ich mir von China gemacht habe, auch viele Gläubige, die Räucherstäbchen an die Stirn halten und auf die Knie gehen und sogar ein Tempel, der Tibet gewidmet ist.




Tibet ist, zumindest bei den Leuten, mit denen ich rede, kein heikles Thema. Man spricht normal darüber, heikler ist die Mongolei. Ich brauche lange, um zu merken, dass Mike meine Geschichten aus der Mongolei nicht interessieren, diese aus chinesischer Sicht widerspenstigen Provinz mit dem Mann, der ihr Land eingenommen und zu einer Nation geformt hat und dessen Name man auch heute noch in China besser nicht erwähnt. Als die Mongolei unter chinesischer und auch unter russischer Herrschaft war, war es verboten den Namen Dschingis Kahn zu nennen und auch heute noch taucht er nur am Rande in chinesischen Geschichtsbüchern auf.

Wir besuchen das Olympiastadion, nehmen die modernste U-Bahn, die ich je gesehen habe, das System ist kinderleicht und auch auf englisch. Als ich erwähne, dass Herzog und De Meuron die Architekten des Stadions sind und wir Schweizer so wenigstens ein einziges gutes Resultat an der Olympiade erzielten, verzieht er keine Miene. Ich verstehe den chinesischen Humor noch nicht, oft lachen sie über Dinge, die aus einem Laurel and Hardy Film stammen könnten. Das olympische Dorf ist gewaltig, wir betreten das Schwimmstadtion, das nur von natürlichem Licht gespeist wird.





 
In meinem Hutong fühle ich mich langsam zu Hause.

Hutongs (chin. 衚衕 胡同, hútong) sind enge Gassen, die in Peking bis in die 1990er Jahre hinein eine der vorherrschenden traditionellen Wohnbebauungen waren.
In den Hutongs Pekings sieht man noch die traditionellen Wohnhöfe (Siheyuan). Heute (2005) gibt es in Peking noch etwa dreitausend Hutongs, in denen fast die Hälfte der Stadtbewohner lebt. Sie werden aber auf Grund der Umgestaltung des Stadtzentrums zunehmend seltener. Auf der Fläche eines Hutongs mit der meist einstöckigen Bebauung lassen sich in moderner verdichteter Geschossbauweise wesentlich mehr Wohnungen unterbringen. Es ist abzusehen, dass schon in wenigen Jahren kaum noch originale Hutongs im Stadtzentrum anzutreffen sein werden, vermutlich jedoch bald als Museumsdorf zu besichtigen sein dürften. Andererseits ist eine Tendenz zu erkennen, neue Hutongs im alten Stil aufzubauen bzw. alte Hutongs zu bewahren.
Im alten China waren die Hutongs der Inbegriff einer Gasse.

Ich habe mein Lieblingsrestaurant, mit einer alten Dame, die sich enorm über meinen Appetit freut und daran, dass ich alles probiere, was sie mir hinstellt, mein Hotelzimmer, das mir damit schmackhaft gemacht wurde, dass es als einziges im Gebäude ein Fenster hat und in Wahrheit charmant heruntergekommen ist. Meine Wäscherei, wo ich für 150 Yuan meine ganze Wäsche waschen kann, mein kleiner Laden, wo Demmi arbeitet, ein Student in meinem Alter, mit dem ich rauche und plaudere, während ich Jogurt durch einen Strohhalm aus einem steinernen Becher schlürfe, mein Lieblingsgetränk hier. Demmi studiert eigentlich Machinenbau, will aber mal etwas Anderes machen und hat deshalb mit zwei Freunden diesen winzigen Laden übernommen. Im Hutong hat sich wohl herumgesprochen, dass eine Langnase hier wohnt, ich werde nicht mehr so oft auffällig gemustert und die Händler nicken mir zur Begrüssung zu, sagen „hello“ oder „ni hao“. Ein Hutong, selbst in einer 17-Millionenstadt wie Peking, hat oftmals die Beschaulichkeit eines Dorfes, selbst wenn Fahrräder, Motorräder und Autos laut hupend und ohne Rücksicht auf Verluste mit hoher Geschwindigkeit durch die engen Gassen brettern. Katzen, Hunde, Kinder toben durch die Strassen, alle kennen sich, plaudern miteinander, in meinem kleinen Restaurant bin ich eine Attraktion. Gestern sass ein Mädchen da und rief extra ihre Kolleginnen an, um mich ihnen zu zeigen. Besonders gerne sehen sie mich essen, ich halte die Stäbchen wohl merkwürdig und wenn ich eine dünne Nudel auch beim zehnten Mal nicht zu fassen kriege, lachen alle. Die erste Frage ist immer die nach meinem Alter, sie können es bei Europäern nicht einschätzen, ich könnte 18, 27 oder 40 sagen und sie würden es glauben, solange ich keine weissen Haare habe. Ich passe mich an, mache nur selten Photos, oft gerade nicht wenn es am Spannendsten, Intimsten wäre, weil sie dies zwar nicht als unhöflich empfinden, aber ich.
In vielem sind wir uns ähnlich, manchmal überraschen sie mich auch. Als ich einem Jungen aus der Nachbarschaft von meinem Blog erzähle, sagt er, dass er diesen ansehen möchte, ich sage, in China sei er gesperrt und er antwortet, als wäre es das Normalste der Welt, dafür gebe es doch VPN-Clients und Proxyserver. Auch Mike, wenn er eine verbotene Seite sehen will, fragt einfach seinen Sohn und der zeigt sie ihm. Und tatsächlich, wenn ich SSL Encryption benutze, um auf Youtube zuzugreifen, kommt meistens diese Meldung:

Wir bitten, die Unterbrechung zu entschuldigen. Wir haben sehr viele Anfragen aus deinem Netzwerk erhalten. Zum weiteren Genießen von YouTube gib einfach den folgenden Bestätigungscode ein.

Wer ausser Chinesen oder sehr wagemutigen Nordkoreanern braucht schon eine Verschlüsselungsseite? Auch bei Filmen sind sie auf dem neuesten Stand, dank der Raubkopien. Die Jugend interessiert sich weder für Mao, noch für die Partei, sondern für dieselben Dinge wie wir, in leicht angepasster Form. Ich habe während meiner Reise ein paar Regeln entwickelt, die ich nur im Notfall breche:

  1. Das Gepäck nie aus den Augen lassen, auch wenn eine hundertjährige Nonne mit einem im Abteil sitzt.
  2. Regelmässig, wenn möglich dreimal am Tag, essen. Die meisten Gemüts und Gesundheitsprobleme kommen vom Hunger. Isst man genug, machen einem wenig Schlaf und Stress weit weniger aus. Das Gleiche gilt für Wasser.
  3. Wenn immer man Zeit übrig hat, diese nutzen, um ein Nickerchen zu machen
  4. Wenn immer möglich duschen und die Hände waschen.
  5. Nie etwas ablehnen, egal, ob es sich um frittierte Hühnerbeine oder Fischkopfsuppe handelt. Das Beste, was ich bisher hier gegessen habe, sah aus, als hätten die Köche es aus dem Abfalleimer gefischt.
  6. In jeder Sprache so viele Wörter wie möglich lernen, mindestens aber:
    ja, nein, guten Tag, auf Wiedersehen, danke, bitte gut, schlecht
  7. Verlässt man den Zug, wenn auch nur für fünf Minuten, Pass und Geld mitnehmen.
  8. Im Zweifelsfall die Einheimischen nachahmen und wenigstens zu Beginn Themen wie Politik und Geschichte vermeiden, Familie, Kinder, Hobbies, Wetter, bisheriger Werdegang eignen sich bedeutend besser.
  9. Die Einheimischen nicht für rückständig oder ungebildet halten und nur über Dinge sprechen, von denen man wirklich eine Ahnung hat. Meistens wissen sie viel mehr über unsere Gewohnheiten, Löhne, Kultur, als wir denken.

Die Unterschiede fallen einem erst im Alltag auf. Das Augenfälligste ist das Spucken. Sich laut räuspernd spucken sie immer und überall, aus dem Bus, auf den Boden, ins Gebüsch, ausserdem haben sie ein anderes Verhältnis zur Lautstärke als wir. Klingeltöne sind auf voller Lautstärke, egal ob in der U-Bahn oder im Restaurant und ähnlich laut auch das darauf folgende Gespräch. Oft denke ich, Mike streite sich mit jemandem, aber so weit ich das sehen kann, reden sie einfach nur sehr laut.


Ich besuche den Sommerpalast, eine gewaltige Anlage, zwei Drittel davon See. Bei den Leuten in Beijing ist der Palast aufgrund seiner wunderschönen Parkanlagen sehr beliebt, eine Möglichkeit aus der überfüllten Stadt raus zu kommen. Ich höre Musik, gehe umher, verweile.







Zuhause angekommen überprüfe ich meinen Kontostand, der Karaoke-Abend hat 140 Franken gekostet. Einerseits bin ich erleichtert, denn es hätte leicht das Dreifache sein können, anderseits wurde ich für chinesische Preisverhältnisse schon ziemlich verarscht. Für den Betrag hätte ich locker eine Woche in meinem Hotel wohnen und im Laden nebenan essen können. Tant pis, nachhaltige Lektionen sind nie billig.

Wie immer bis jetzt esse ich hervorragend zu Abend. Ich bin immer noch nicht ganz fit, bin darüber aber nicht allzu traurig, denn Mike will mich seit dem Besuch im Olympiastadion unbedingt zum Schwimmen mitnehmen und ich bin nicht allzu scharf darauf, mit hunderten Chinesen in einem Bad zu sitzen, ich werde auf der Strasse schon genug angeschaut. Ich habe bemerkt, dass gute Kleidung von Vorteil ist, seit ich ein Hemd und keine Fliesjacke mehr trage, hält man mich eher für einen Geschäftsmann oder Studenten, der hier eine wichtige Funktion erfüllt. Die Alte aus dem Laden nebenan mach mir einen Wurzeltee gegen die Erkältung, der grässlich schmeckt.

1 Kommentar:

  1. Liebster, liebster Landstreicher. Jeden Tag eile ich durch das world wide web zu deinem wunderbaren Blog und freue mich jedesmal, wenn du was Neues schreibst. So kann ich wenigstens in Gedanken mit dir reisen. Denke viel an dich, vermisse dich sehr, freue mich aber für dich & deine schöne Zeit. In Liebe, deine Rita Lynn.

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