Ich habe einen ziemlichen Kater, als ich vom Hotelzweckdienst aus dem Schlaf geklingelt werde, meinen Handywecker habe ich ja in Beijing gelassen. Wie am Abend zuvor sassen wir gestern an unserem Stammtisch im 47. Stock der sich drehenden Bar, während rundherum die Lichter der Stadt ausgeschaltet wurden, um Strom zu sparen, tranken das gar nicht mal schlechte nordkoreanische Bier, redeten über den Tag, über deutsche Politik, die Eigenheiten der Schweiz und Österreich, Dialekte, Gerüchte, gute Skigebiete. Die Alten verglichen die Situation hier mit der in der DDR, erzählten Geschichten, fühlten sich mit uns wieder jung und so kam es auch, dass sie mehrere Runden ausgaben und der Abend ziemlich spät wurde.
Ich muss mich zwingen, aufzustehen. Wenn ich liegen bleibe, wache ich erst in ein paar Stunden wieder auf und der Bus wartet nicht. Im Bus unterhalte ich mich mit Yvott, dem Südafrikaner, er sieht irgendwie schlecht aus und ich frage, ob alles in Ordnung sei, frage, warum er nicht zum Frühstück kam, der Tag würde lang werden. Er antwortet, er faste seit gestern und als ich frage wie lange das dauern würde, antwortet er, so lange bis der Herr ihm sagen würde, dass er aufhören kann. In einem Land, in dem nichts ist, wie es scheint, ein Land, das den Begriff „fremd“ in eine ganz neue Dimension erhebt, kommt mir ein christlicher Spinner beinahe normal vor und so denke ich mir nicht viel dabei, wechsle aber doch das Thema. Er erzählt, dass Mandela in Europa wie ein Held gefeiert werde, in Südafrika aber einen zweifelhaften Ruf geniesse. Auch ich bin immer davon ausgegangenen, Mandela sei so lange im Gefängnis gewesen, weil er gegen die Apartheid gekämpft habe. Tatsächlich habe er aber ein Restaurant in die Luft gesprengt, das voller Unschuldiger gewesen sei, darunter auch entfernte Mitglieder von Yvotts Familie, ich nicke zweifelnd. Noch schlimmer sei der gegenwärtige Präsident, gegen den vor Amtsantritt an die siebzig Verfahren liefen, darunter auch mehrere Fälle von Vergewaltigung.
Was für die Muslims Mekka ist für die Nordkoreaner die Gedenkstätte von Kim Il Sung, ein riesiges Gebäude aus Marmor, darin liegt er, fotografieren ist natürlich verboten. Man verneigt sich auf jeder Seite des gläsernen Sarges und alle in der Gruppe, die mir sympathisch sind, weigern sich wie auf ein stummes Signal, stehen kerzengerade da, was von den Wachen mit strengen Blicken quittiert wird. Man bekommt einen Kopfhörer und die deutsche Stimme erzählt, wie die ganze Welt beim Tod des geliebten Führers in einem Meer aus Tränen zu ertrinken drohte. Weinende Menschen aus Marmor schmücken die Wände und die Stimme sagt, die Menschen haben so lange in diesem Raum um den Tod des geliebten Führers geweint, dass sie zu Stein geworden wären. In einem weiteren Raum dann all die Orden, die Kim Il Sung in seinem Leben erhalten hat, jede Diktatur nach dem zweiten Weltkrieg ist dabei, aber auch Frankreich und sogar die U.S.A, Schwarzweissbilder von Kim Il Sung, der Arafat, Castro und Gaddafi die Hand schüttelt.
Ein Ossie wie aus dem Bilderbuch, mit Sandalen und grauen Socken, stellt sich mir sehr förmlich als Norbert vor, erzählt mir die Geschichte, als Helmut Schmidt in seiner Studentenzeit die DDR besuchte und Norbert mit seinen Freunden in das kleine Städtchen fahren wollte, wo Schmidt empfangen werde sollte. Nur wurden sie nicht in das Städtchen gelassen, weil dort von der Bäckerin bis zum Kindergartenkind nur Schauspieler Zutritt hatten, was Schmidt natürlich durchschaute und eine entsprechend ironische Bemerkung dazu machte.
Es ist sehr warm, um die dreissig Grad und alle scheinen ausgelassener, überdrehter, selbst die Führer, als wir eine Galerie besuchen. Der Alte aus dem Flugzeug, den die zwei Bayern in meinem Alter und ich nur den Detektiv nennen, weil er sich zu allem Notizen macht, überall Verschwörung und Gehirnwäsche wittert und den Reiseleiter gerne ins Kreuzverhör nimmt, formt, als wäre es das normalste der Welt, aus einem Stück Ton eine Figur, die wohl Kim Jong Il darstellen soll, stellt sie auf den Fenstersims und geht weiter als wäre nichts geschehen. Nur Thomas, einer der jungen Bayern und ich bemerken es und haben Tränen in den Augen vor Lachen, den Rest des Tages kann ich das hysterische Lachen nicht unterdrücken, wenn ich an die Szene denke. Ich biete dem Führer, der in Kleidung und Gestik etwas von einem Playboy hat, eine Zigarette an, eine der letzten aus der Schweiz und als er das sieht ist der Groll von gestern vergessen. Ich sage, dass in Singapur eine Zigarette auf dem Boden 50 Dollar kostet, was wirklich stimmt und dass ich hier ja noch glimpflich davon gekommen wäre.
Auch die beiden Assistentinnen tauen auf, die kleinere, die mir gar nicht schlecht gefällt, fragt mich in empörend schlechtem englisch aus, Alter, Schule und natürlich wie es mir hier gefällt. Ich frage, was sie studiert, sie antwortet „angersch“, ich frage, „was?“, sie wiederholt und so geht das einige Zeit, bis ich merke, dass sie „englisch“ studiert und noch nicht einmal das Studienfach richtig aussprechen kann. Die andere Assistentin spricht gut englisch, allerdings nur, wenn sie auf eine vorgefertigte Frage eine vorgefertigte Antwort geben kann, wie etwa, wann und wie die Amerikaner den Koreakrieg gegen ihr Volk begonnen hätten (was man uns hier weiszumachen versucht, obwohl jeder in der Gruppe weiss, dass Nordkorea und nicht die U.S.A. 1950 den Krieg begonnen hat). Darauf antwortet sie fliessend, stockt aber, wenn sie interpretieren, Zusammenhänge herstellen oder eine eigene Meinung vertreten muss.
Wir besuchen eine weitere Galerie und auf einem Sockel sitzt ein älterer Herr und betrachtet eine Vase. Ich schaue mir die schönen Bilder an der Wand an, wundere mich aber, dass der Alte in meinem Augenwinkel sich nicht bewegt. Es ist eine Wachsfigur, täuschend echt, selbst von Nahem. Ich hatte gerade vorhin am Tisch mit dem beiden Wienern, Vater Richter und Sohn Arzt eine Diskussion darüber, ob das, was wir gesehen haben, wirklich Kim Il Sung in einem Glassarg sei. Der Arzt hält das für völlig absurd und nickt jetzt vielsagend in Richtung altem Wachsmann. Der Richter und ich schweigen. Es wäre gut möglich, dass der Künstler, der diese Figur gemacht hat und scheinbar erst kürzlich in hohem Alter gestorben ist, postum alle grossen, einbalsamierten, kommunistischen Führer fabriziert hat, Mao, Lenin und Ho Chi Minh.
Wir besuchen den Kinderpalast. Ähnlich wie der Kindergarten am Vortag ist es ein riesiges Gebäude, nur sind die Kinder hier älter, um die 15 und aus dem ganze Land ausgewählt, hier kommen nur die Begabtesten hin. Es soll aussehen, als würden sie freiwillig und beinahe zufällig hierherkommen, um zusammen zu musizieren, tatsächlich spielen sie aber wohl um die zehnmal am Tag dieselben perfekten Stücke, für jede Gruppe Ausländer in Pjöngjang einmal. Viele sehen übernächtigt aus, haben dunkle Ringe unter den Augen, aber die Präzision und Schönheit der Musik ist nichtsdestotrotz beeindruckend. Ein alter Slowake unserer Gruppe, der mich, seit ich ihm erzählte, dass ich Geschichte studiere, zu seinem Hauptgesprächspartner auserkoren hat, nickt bewundernd im Takt, flüstert, das sei noch was, die Kinder von heute sässen ja nur noch vor dem Computer. Ich will ihm widersprechen, doch mir fällt keine Erwiderung ein.