Mittwoch, 29. September 2010
Tag 14, Terelj
Tag 13, Terelj
Tag 12, Ulaan Baatar
Dienstag, 28. September 2010
Tag 11, Transsib
Alle sind ziemlich angetrunken. Ich setze mich dazu und wir sprechen über Politik und darüber, dass es in Stockholm scheinbar eine Stadt unter der Stadt gibt. Eine ganze Stadt im Untergrund. Ich erzähle von den Armeestädten innerhalb der Schweizer Berge und alle schauen ungläubig. Wir sprechen über Mankells Wallander, von dem ich vor ein paar Jahren regelrecht besessen war und Erik sagt, dass in Ystad, wo die Romane spielen, in Wahrheit vielleicht 9000 Menschen leben, es also äusserst unwahrscheinlich sei, dass dort so viele Morde passieren. Wir lachen. Erik ist Krankenpfleger, seine Freundin Kindergärtnerin, Ruth ist Psychologin und Chris arbeitet für HSBC. Alle ausser Chris sind also in sozialen Berufen., was man der Diskussion anmerkt. Wie immer sage ich auch hier, dass ich Lehrer bin, wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt, man muss ja nicht gleich die ganze Lebensgeschichte erzählen und immerhin war ich mal auf dem besten Weg, Lehrer zu werden. Jedenfalls dreht sich die Diskussion bald um das Gesundheitswesen, bald um Politik. In allen Ländern der Beteiligten ist die Situation dieselbe. Die rechten Parteien schüren Angst vor allem, was anders oder neu ist, obwohl man, was Bevölkerungswachstum und Erledigung der Arbeit, die kein Einheimischer machen möchte, auf diese Zuwanderer angewiesen ist und gerade die rechten Parteivertreter von eben diesen billigen Arbeitskräften oftmals am meisten profitieren. In meiner Zeit als angehender Lehrer wurde an der pädagogischen Hochschule das skandinavische Modell als erstrebenswertes Ideal dargestellt, wir haben sogar Filme aus schwedischen Schulen geschaut. Die Geschichten, die Erik aus seiner Schulzeit erzählt, relativieren dieses Bild, ja zeigen, dass dort dieselben Mechanismen wie überall laufen. Es geht um Selektion, Menschen werden eingeteilt, um in irgendeine Wirtschaftssparte zu passen. Die mongolische Zugbegleiterin streckt zum hundertsten Mal ihren Kopf in unser Abteil, flucht auf mongolisch und hält ihren Finger vor die Lippen, ich schaue auf die Uhr, es ist 3 Uhr morgens, um 6 hält der Zug in Ulaan Baator. Erik, Chris und ich torkeln Richtung Toilette. Erik geht zuerst, es dauert so lange, dass ich gegen die Wand gelehnt weg döse. Nach ihm betrete ich den engen Raum, es stinkt bestialisch, Ich atme durch den Mund, pisse schnell ins Waschbecken, wasche Hände und Gesicht. Als ich herauskomme, frage ich: „did you kill something in there?“ Irgendetwas an dem Satz legt bei uns allen einen Schalter um, ein Damm bricht, wir bepinkeln uns fast vor lachen. Die mongolische Provodnica kommt, ernsthaft wütend, mit einem Stock in der Hand, den sie braucht um Fenster zu schliessen und treibt uns förmlich in die Kabinen zurück.
Donnerstag, 23. September 2010
Tag 10, Nauski / Grenze Russland - Mongolei
Nach Abteildurchsuchungen und Befragungen der russischen Grenzwächter endlich in der Mongolei angekommen. Die Toiletten werden vor und nach der Grenze geschlossen, wir warten über vier Stunden an der Grenze und dementsprechend gross ist der Andrang vor den Toiletten nach der Grenze. Die Atmosphäre im Zug ist völlig anders als noch auf der Fahrt von Moskau nach Irkutsk, alle können in irgendeiner Sprache miteinander reden, teilen ähnliche Erfahrungen, es hat etwas von einer Gemeinschaft. Zu diesem Bild passt, dass wir seit Nauski (der Grenzstadt) nur die Lokomotive und einen Wagen haben, „the tourist train“ nennt ihn Ruth. Eine Gemeinschaft von Reisenden, eine spezielle Art von Menschen, irgendwie befreiter und offener als die Leute, die man sonst so trifft. Viele kommen zu mir und fragen mich nach Nordkorea, Preise, Touren, Visa, niemand hat bisher ernstlich in Betracht gezogen dort hinzureisen. Ich könnte ein Buch füllen mit all den Tipps für Indien, Nepal, Kambodscha und eben Laos, welches jetzt definitiv auf meiner Reiseroute steht. Ich ertappe mich dabei, nach all der Zeit allein oder in russischer Gesellschaft, etwas aufdringlich und zu gesprächig zu sein und muss mich zurückhalten, nicht jeden Reisenden voll zu labern, den ich beim Samowar oder rauchen treffe. Es hat ein französisches Mädchen im Nachbarabteil, mit dem ich mich nett unterhalte und die mich manchmal verstohlen, manchmal ganz offen ansieht, aber hier hat man einfach keine Möglichkeit für einen ungestörten Moment.
Tag 9, Visaprobleme Irkutsk
Ich bin seit 4 Tagen illegal in Russland. Mein Visa war nur gültig bis zum 16.09.10 und heute ist der 21.09.10. wahrscheinlich hat die Visafirma geschlampt. Jedenfalls wurde ich um 8 Uhr morgens abgeholt, wollte aber zuerst frühstücken, weil ich mir schon dachte, dass es ein langer Tag werden würde. Der Fahrer ist wild entschlossen, die durch das Frühstück verlorene Zeit aufzuholen und rast mit 150 km/h von Listwjanka nach Irkustk, erlaubt, oder besser empfohlen sind 60 km/h. Wie ein Irrer kurvt er durch die wunderschöne Landschaft, die kurvige Strasse geht auf und ab, einmal heben wir beinahe ab und ich brauche meine ganze Konzentration, um mein Frühstück unten zu halten.
Dann Immigrationsbüro, meine charmante Begleitung namens Jelena vom zuständigen lokalen Reiseveranstalter redet auf einen schlecht gelaunten Bürokraten ein. Es gibt zwei Möglichkeiten;
Entweder muss ich morgen nach Moskau und von dort zurück nach Zürich fliegen, oder sie lassen mich heute Abend mit der Transsib nach Ulan Bator weiterreisen. Meine Begleitung sagt, dass für die Behörden beide Möglichkeiten unangenehm sind und einen Papierkrieg nach sich ziehen, einfacher wäre es wohl, mich einfach weiterreisen zu lassen. Eine Strafe von 3000 Rubel für den illegalen Aufenthalt muss ich aber sowieso zahlen, ausserdem darf ich für fünf Jahre nicht mehr in Russland einreisen. Jetzt sitze ich im Büro von Baikal Travel, trinke Tee und warte.
Das Immigrationsbüro ist unglaublich heruntergekommen, alle rauchen in ihren kleinen Büros, mit Photos von Putin und Medwedew an den Wänden, die Gänge sind voll von Usbeken, Turkmenen und Mongolen, die in Russland arbeiten möchten. Zum Glück habe ich Verstärkung mitgebracht, Jelena und Olga von Baikal Travel. Die nächsten Stunden hetzen wir von Abteilung zu Abteilung, ich muss einen Report ausfüllen und begründen, weshalb ich die letzten vier Tage illegal in Russland verbracht habe, alle Reisedokumente vorweisen und zum Schluss werden mir die Fingerabdrücke abgenommen
Um 17 Uhr macht das Büro zu und es ist bereits 17.15 Uhr. Es sieht schlecht aus. Dann betreten wir ein kleines Büro, in der eine nett wirkende, alte Dame sitzt. Olga und Elena reden auf sie ein, ich habe die Hoffnung schon seit einer Stunde aufgegeben und will nur noch ein Hotel in Irkutsk suchen und mich hinlegen. Dann plötzlich Betrieb, Aufregung, wir gehen in den Keller, füllen Formulare aus, bringen sie in ein anderes Büro. Es sieht gut aus, doch jetzt gefällt der einen Sekretärin mein Passfoto nicht, das ich noch in Zürich gemacht habe, der Hintergrund ist nicht weiss genug. Wilde, laute Diskussionen, ich verstehe nur „visa“, „problem“ und „passport. Olga übersetzt und sagt, wie schon den ganzen Tag „man muss abwarten.“ Es ist 17 Uhr 45, mein Zug fährt in zwei Stunden, Putzleute säubern bereits die Gänge. Dann, plötzlich geht es und ich bekomme ein Transsib-Visum. Man muss sch schon einmal mit russischer Bürokratie auseinandergesetzt haben, um zu verstehen, was für eine Leistung das ist, in einem Tag ein Visum zu bekommen, eigentlcih ein Ding der Unmöglichkeit. Erschöpft und glücklich lade ich Jelena und Olga auf Pizza und Bier ein, danach verabschieden wir uns herzlich.
Tag 8, Baikalsee
Schon in Listwjanka ist mir aufgefallen, dass die Hauptsaison wohl vorbei ist, viele der Restaurants bleiben geschlossen, in meinem ziemlich grossen Hotel hat es vielleicht zwanzig Gäste. Die Landschaft ist unglaublich, hinter mir erstreckt sich, von bunten Bäumen eingerahmt der gewaltige See. Auf Cerskovs Fels angekommen, verschlägt es mir den Atem, so gewaltig erscheint der See. Ich setze mich hin, rauche, vom Anblick in eine Art Dauerrausch versetzt, mache ich ein Photo und Film nach dem andern, als bräuchte ich einen Beweis, um später noch sicher zu sein, dies wirklich gesehen zu haben. Ich setze mich auf die Erde, starre unentwegt auf das sich stets verändernde Panorama. Hier ist die Stelle, wo der Fluss Angara den Baikalsee verlässt. Angara ist der einzige Abfluss und würde man die 336 Zuflüsse unterbinden, würde es trotzdem noch drei Jahre dauern, bis der See vollständig abgeflossen wäre. Der Baikal bildet das grösste Reservoir flüssigen Süsswassers der Erde mit einem Fünftel der flüssigen Süsswasserreserven.
Nach einer Weile reisse ich mich los, mache mich an den Abstieg, taste beständig über das nun nackte Handgelenk. Unten am See angekommen, setze ich mich an das Denkmal des Schriftstellers Aleksandr Vampilov, er ist an dieser Stelle bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen.
Der See ist so sauber, dass sein Wasser in ganz Russland als Trinkwasser in Flaschen verkauft wird und die Menschen es auch direkt daraus trinken.
Ich könnte mein Leben damit verbringen, den Baikal zu betrachten und es wäre kein verschwendetes Leben gewesen.
Tag 7, Irkutsk / Baikalsee
Da steht sie. Blond, gross, leicht zitternd, denn in Irkutsk ist es vielleicht fünf Grad, mit einem Schild, das meinen Namen trägt in der Hand. Ihr Name ist Inna, sie spricht deutsch mit einem Akzent, der mehr französisch als russisch klingt, sonst aber beinahe perfekt. Ich trage immer noch meine Trainerhosen aus dem Zug und bin auch sonst recht unbeholfen. Sie fragt, ob wir gleich mit der Tour beginnen oder zuerst frühstücken wollen. Wir gehen frühstücken, im Keller eines Hotels, drei Gänge. Nach dem zweiten kann ich nicht mehr. Wir reden und reden, die drei Tage voller sprachlicher Missverständnisse und resignierter Gesprächspausen im Zug haben in mir einen unglaublichen Durst nach Konversation zurückgelassen. Ein Fahrer taucht wie ein Geist aus dem nichts auf. Wir gehen durch die dämmernde Stadt, die man das Paris von Sibirien nennt und ich kann sehen, weshalb. Breite Strassen und Gehwege, klassizistische Gebäude, Kinos, Theater, Puppenhäuser, Parks und ein Fluss, Angara, der die Seine wie ein dünnes Rinnsal aussehen lässt. Inna ist ein wandelndes Lexikon, ihr Wortschatz ist unglaublich, egal ob wir über Architektur, Geschichte oder Biologie reden. Wir gehen durch die noch menschenleere Stadt und immer wieder taucht der Fahrer aus dem nichts auf und bringt uns an einen neuen wunderbaren Ort.
Als wir bei einer Erlöserkirche stehen, die gleichzeitig das älteste Gebäude Irkutsks darstellt, beginnen die Glocken zu läuten, sie rufen zum Morgengebet.
Wir betreten die Kirche. Die Menschen stehen da, zum Altar gewandt. Ein Priester spricht, halb singend die Gebete, am Ende jedes Satzes bekreuzigen sich die Menschen und senken den Kopf, am Schluss gehen die Frauen auf die Knie oder berühren kurz den Boden. Auch Inna beteiligt sich am Gebet und lächelt mir dazwischen zu, ihr Haar unter der Kapuze ihrer Jacke verborgen, die anderen Frauen tragen Kopftücher, keine von ihnen ist barhäuptig. Jemand geht mit dem Sammelteller herum, ich lege, von der Zeremonie und dem mangelnden Schlaf noch ziemlich benommen, einen Schein hinein, ohne zu wissen, was für einen. Draussen fragt Inna, wieso ich Religionswissenschaft studiere, wenn ich doch ungläubig sei und ich habe beim besten Willen keine Antwort darauf. Irkutsk hat eine blutige Geschichte, viele Rotgardisten wurden aus Petersburg oder Moskau vom Zar hierher in die politische Verbannung geschickt:
Im Dezember 1825 revoltierte eine grosse Gruppe russischer Adliger gegen Nikolaus I.. Die Revolte wurde niedergeschlagen und die so genannten Dekabristen wurden nach Sibirien verbannt und siedelten sich großssteils mit ihren Familien in Irkutsk an. Die Dekabristen hatten einen immensen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung und das Selbstverständnis der Stadt und sind auch heute noch im allgemeinen Bewusstsein sehr präsent.
(Von diesen Dekabristen oder eben Dezemberisten hat die Band The Decemberists übrigens ihren Namen.)
Die Stadt ist voller Denkmäler, ob hingerichtete Weissgardisten oder die in jeden russischen Stadt vorkommende, ewige Flamme für die Opfer des zweiten Weltkriegs.
Wir gehen hinunter zum Fluss, wo viele frisch verheiratete Paare hinkommen, um sich ablichten zu lassen und es Tradition ist, ein Schloss, als Zeichen des ewigen Bundes an das Geländer zu ketten. Einige der Schlösser sehen aus, als wären sie schon Jahrzehnte dort. Ich frage Inna, ob sie verheiratet ist, sie schüttelt errötend den Kopf. Eine Katze kommt auf uns zu und beginnt sich wie wild an meinem Bein zu reiben, sie versucht ernst zu bleiben und spricht über die Herkunft eines Denkmals von Zar Nikolaus. Ich blicke streng und interessiert drein, während die Katze Richtung Höhepunkt steuert. Inna sieht mich an und beide ziemlich übermüdet lachen wir wie die Irren, die Spannung der letzten Tage fällt von mir ab, wir können gar nicht mehr aufhören. Eine dicke Frau joggt vorbei, sieht uns irritiert an, wir lachen, bis die Augen tränen und der Bauch schmerzt. Je länger, je mehr kommt mir die Tour wie eine Verabredung vor.
Der Fahrer taucht aus dem nichts auf und wir machen uns auf den Weg nach Listwjanka, einer Stadt direkt am Baikalsee, unterwegs halten wir beim Freilichtmuseum Talzy:
36 alte Bauten wurden hier wiedererrichtet: ein Ewenken-Lager, burjatische Jurten, Bauernhäuser, Kirchen und ein Teil einer von den russischen Sibirien-Eroberern Ostrog genannten Holzfestung. Dieser Ostrog stand ab 1630 in Ilimsk, etwa 500 Kilometer nördlich des heutigen Irkutsk. Mit der Zeit wurde diese Festung mit ihren acht Türmen zum regionalen Zentrum. Der Spasski-Torturm des Ilimsker Ostrogs steht heute in Talzy, weil Ilimsk durch dem Ust-Ilimsker Stausee überflutet wurde. Neben dem Festungsfragment stehen eine aus dem 17. Jahrhundert stammende Kapelle, ebenfalls aus Ilimsk, sowie eine Kirchenschule aus dem 19. Jahrhundert.
Daneben ist das Museum Leben, Gebräuchen und Traditionen in der Kultur der Bewohner Transbaikaliens – Russen, Burjaten und Ewenken – im 19. und 20. Jahrhundert gewidmet.
Wir besuchen das Baikalseemusem, viele ausgestopfte Tiere, viele Tiere auch, die nur hier vorkommen. Ich bin voll mit Informationen über Flora und Fauna. Inna redet und redet, sie spricht in einem Fluss und man merkt, dass sie diesen See liebt, sich wirklich für die historischen und biologischen Fakten begeistert und ihre Begeisterung, ihr Wesen ist ansteckend. Im Keller des Museums befindet sich ein Aquarium, darin neben Golomjanka und Omul, die ich im Laufe der nächsten Tage zu verspeisen hoffe, auch die Baikalrobbe, ebenfalls einzigartig auf der Welt und nur eine von zwei Robbenarten, die im Süsswasser vorkommen. Der ganze Baikalsee gefriert im Winter, eine meterdicke Eisschicht bedeckt ihn. Dick genug, dass ihn im Winter selbst Lastwagen überqueren, die Baikalrobben haben lange Krallen, um beständig Löcher in den dicken Eispanzer zu graben, um atmen zu können.
„Zwei Drittel der rund 1500 Tier- und 1000 Pflanzenarten sind endemisch.“ sagt Inna gerade und fährt auf meinen fragenden Blick hin fort „endemisch bedeutet einzigartig.“ Irgendwie beschämt es mich, dass sie in meiner Sprache Wörter kennt, die ich nicht kenne und nicht nur ein paar, sondern dutzende. Wir gehen am Ufer entlang und irgendwann treffen sich unsere Hände, sie bringt mich in mein Hotel und regelt alles an der Rezeption, ich frage, ob sie mich auf mein Zimmer begleiten möchte, sie nickt errötend und sagt, dass sie später wieder zurück nach Irkutsk müsse. Es ist sehr schön.