Mittwoch, 29. September 2010

Tag 14, Terelj

Die romantischen Vorstellungen von einem Leben in der Jurte werden in der Nacht ziemlich stark relativiert. Eine Stunde nachdem das Feuer aus ist, sinkt die Temperatur auf den Nullpunkt. Ich zittere, hole so ziemlich jedes Kleidungsstück aus meinem Rucksack und ziehe es an. Unter zwei Decken, einem Schlafsack, drei Leibchen und Pullover, sowie langen Unter und Trainerhosen döse ich langsam weg, möglichst ohne mich zu bewegen Denn jedes mal wenn ich mich bewege, merke ich die Kälte an einem neuen Teil meines Körpers. Die Jurte wurde noch nicht winterfest gemacht, im Winter legen die Nomaden mehrere Lagen Filz auf die Schaffelle der Jurtenwand und der jetzt noch Wind durchlässige untere Teil wird mit Erde und Dung versiegelt. So um fünf erwache ich, die Blase drückt, draussen liegt Schnee oder gefrorener Tau, es windet so fest, das ich mich kaum auf den Beinen halten kann.

 
Djerra und Ganna oder Derrick und Harry, wie ich sie insgeheim nenne (Djerra sagt immer bevor wir aufbrechen auf mongolisch „Hol den Wagen Ganna“) schlafen fest aber wälzen sich auch vor Kälte. Ich will trinken, doch das Wasser in der Flasche ist gefroren. Ich trinke zwei Schluck Dschingis Kahn Vodka und in Embryostellung schlafe ich schliesslich ein. Ein paar Stunden später kommt der Alte aus der Jurtenkneipe und macht Feuer, ohne zu sprechen warten wir ungeduldig und stoisch um den Ofen.
Zum Frühstück gibt es Fleischsuppe mit Kartoffeln und Gemüse, dazu Fleisch in Blätterteig gewickelt und natürlich Yakmilchtee. Wir schauen, noch ziemlich erschöpft von der Nacht, einen Film mit einem Bär, der sehr nach Disney aussieht. Jemand jagt den Bär, der eigentlich ein verwandelter Mensch und der Bruder des Jägers ist. Wir rauchen und Djerra plaudert mit dem Alten. Dieser erzählt, dass in der Nähe ein Pferderennen stattfindet, Heute ist der siebzehnte Tag nach Herbstbeginn, ein wichtiger Tag nach Mond/buddhistischem Kalender. Wir wissen nicht genau, wo das Rennen stattfindet, also fragen wir reitende Nomaden und sie zeigen uns die Richtung.


 
Nach einigen solchen Richtungsanweisungen erreichen wir unser Ziel. Es sind nur zwei andere Autos, ein paar Pferde und Jungen von vielleicht sechs bis zehn Jahren da. Das sind die Jockeys, die Nomadenkinder sitzen schon mit vier auf einem Pferd und sind ein paar Jahre später bereits so gut, dass sie an Rennen teilnehmen können. Mehr Reiter und Autos gesellen sich zu uns, ich bin hier eine Kuriosität, man macht Witze. Einer sagt, er möchte mit mir die Uhr tauschen und ist enttäuscht als ich keine trage, ein Anderer hat ein Konto voller Gold in der Schweiz und wieder ein anderer will eine Schweizer Bank überfallen. Ich werde herzlich aufgenommen und obwohl es erst 11 Uhr morgens ist, nötigt man mich, Vodka und Bier zu trinken, dazu Brot und Wurst. Nach dem dritten Glas schwanke ich bereits gefährlich und werde beinahe von einem Pferd überrannt, zur Stärkung nehme ich einen Schluck Bier. Ich biete allen Zigaretten an, um michzu revanchieren und sie werden gerne genommen, besonders, als ich sage, dass sie aus der Schweiz kommen Die Kinder reiten los Richtung Startpunkt, denn wir stehen am Ziel. In der Ferne sehe ich, dass einer der Jungen abgeworfen wird. Ein Mann in Tracht eilt zu ihm hin. Djerra erklärt, dass die Tiere im Training auf einen schnellen Start gedrillt werden und deshalb schwer zu kontrollieren sind. Dem Jungen ist nichts passiert und sie reiten weiter.




 

Nach einer Weile und zwei neuen Runden Vodka, die ich erfolglos abzulehnen versuche, tauchen die Jungen in der Ferne auf. Der Junge, der sich mir auf englisch als „Tony“ vorgestellt hat und deshalb mein Favorit ist, gewinnt.




 


 
Jeder Reiter wird mit Schreien begrüsst und danach beginnt die Preisverleihung, Ich sehe nicht mehr so klar und kann deshalb nicht sagen, was die Jungen bekommen. Ich tippe auf Wasserkocher, während ich durch die jubelnde Menge torkle und konzentriert auf meine Kamera starre, um beschäftigt und nicht so betrunken auszusehen, deshalb die vielen Videos.



 

Nach einer Ehrenrunde und einem Abschiedstrunk gehts zurück nach Ulaan Baator, auf dem Weg essen wir die Reste von meiner Zugreise, die Krakowska-Wurst findet grossen Anklang. Ich döse weg im Wagen, wir halten bei einer Bar, die „Dschingis Beer“ heisst und nach dem im selben Gebäude gebrauten Bier benannt ist, wie jedes Bier hier nach dem deutschen Reinheitsgebot.


 

In der Zeit des kalten Krieges waren in der DDR viele mongolische Gastarbeiter, legale und nach der Wende illegale, etwa 30'000 Mongolen sprechen deshalb deutsch, die grösste deutschsprechende Gruppe ausserhalb Europas. Die Sonne scheint und gleichzeitig schneit es, doch dass ist nicht das einzig Merkwürdige hier. In der Toilette, die an Luxus kaum zu überbieten ist, (statt sich die Hände am Wasserhahn zu waschen hat es dampfende, feuchte Tücher und Marmorwände) höre ich, in der Kabine pissend, zwei deutsche Schwule, die am Pissoir miteinander turteln. Ich warte, bis sie gegangen sind und setze mich wieder zu Djerra, erzähle ihm vom Zürcher Nachtleben, erzähle ihm von OMG und er ist hell begeistert. Wahrscheinlich wird es in Ulaan Baator in Zukunft eine Firma namens „OMG Tours“ unter seiner Leitung geben. Aufs neue angeheitert besuchen wir die Oper und die Darbietung mit Pferdekopfgeige und Obertongesang reiht sich mühelos in den sonst schon surrealen, wunderschönen Tag. Ich habe in einer Jurte gefroren, wurde danach von Nomaden als einer der ihren aufgenommen, habe einen Mann gesehen, der seinen Adler spazieren führt, also ist ein Mädchen, das sich auf unmögliche Weise zu fremdländischen, nie gehörten Klängen verbiegt nichts Ungewöhnliches. Es ist verboten, die Darstellung zu filmen und nach der Vorstellung hält mich die Platzanweiserin zurück und ich muss 6000 Tugrug (in Wahrheit bezahle ich nur 1500, denn das ist alles, was ich auf mir trage und nach einer Weile akzeptiert sie das auch) Strafe zahlen, doch es hat sich gelohnt.




 

Nach der Oper gehen wir auf einen Abschiedstrunk in eine Bar / Nachtclub und essen erst mal was, Hühnchen und Reis, man kann hier einfach überall essen. Es ist wohl das fünfte Essen am heutigen Tag, gleich viel wie gestern, was auch erklärt, warum ich heute keinen Kater und den Tag bis zum Abend trotz des beachtlichen Vodkakonsums einigermassen überstanden habe. Ganna kommt nicht mit, da er noch fahren muss, Djenna und ich trinken zusammen, reden über Frauen (er hatte nie besonders viel Glück mit Beziehungen und ist mit bald 40 noch ledig, was in der Mongolei gesellschaftlich ein echtes Problem darstellt, Freunde in seinem Alter und Bekanntenkreis haben schon über zehn Kinder), natürlich Dschingis Kahn, Sumo-Ringen, die wechselhafte Geschichte der Mongolei, welche stets ein Spielball zwischen den zwei Grossmächten Russland und China war. Ich sage ihm, dass die letzten zwei Tage zu den schönsten meines Lebens gehören und er tut das mit einer Handbewegung ab, ist aber sichtlich geschmeichelt. Am anderen Tisch sitzen angeheiterte Mädchen und kichern, wenn wir zu ihnen rüber schauen, wir passen hier nicht so richtig rein mit unseren staubigen Kleidern, die ziemlich stark nach Feuer riechen.




 

Zum Schluss bringe ich Djerra einen romanischen Trinkspruch bei, den ich mal in einem Klassenlager in Lawin gelernt habe, um den Mangel an kultureller Identität der Schweiz zu überbrücken, die in der Mongolei so endlos vorhanden scheint. „Viva la Grischa, vacaca a gamisha.“, „ein Hoch auf die Bündner, scheiss auf die Städter.“ Wir gehen die Strasse entlang, ein Nachtklub reiht sich an den anderen, gelegentlich unterbrochen von den sehr beliebten Karaokebars. Ein betrunkener Penner schreit mir etwas hinterher, ich verstehe nur „russki“. Djerra sagt, für die Mongolen sind alle weissen Ausländer Russen. Ja, denke ich, scheiss auf die Städter. Ich sitze in meinem Hotelzimmer und draussen erklingt ein Hupkonzert, das oft die ganze Nacht dauert. Ein Witz hier besagt, dass die Mongolen (die erst seit der Wende Anfang der neunziger Jahre im grossen Stil Auto fahren, was sich im übrigen noch an den alten, zu engen Strassen und den neuen, verbeulten Autos erkennen lässt) nie wirklich den Schritt von den freien Reitern zu den rücksichtsvollen Autofahrern gemacht haben.


Tag 13, Terelj

Wir fahren aus Ulaan Baator heraus. Die Stadt ist voller Gegensätze. In der Innenstadt findet man Hochhäuser, Pubs, gestresste Menschen und äusserst modisch gekleidete, wunderschöne Frauen, was nicht verwunderlich ist, wenn die Kleiderfabrik der Welt sozusagen vor der Türschwelle liegt. Nur ein paar Kilometer draussen dann merkwürdige Felsformationen, es scheint, als wären riesige Kieselsteine zusammengeklebt worden. Dazwischen Jurten oder Ger, wie sie auf mongolisch heissen. Wir besuchen ein Kloster oder besser Meditationshalle, denn anders als in der gängigen Vorstellung sind die buddhistischen Mönche in der Mongolei keine Vollzeitmönche, sie treffen sich zum Morgengebet und gehen so um 16 Uhr wieder nach Hause und leben als Zivilisten weiter. Es ist ein lukrativer Beruf, die Menschen gehen zu ihnen, geben ihnen Geld und die Mönche beten für sie, lesen tibetische Schriften, die Hälfte des Geldes geht ans Kloster, die andere Hälfte behalten sie.


Die Mongolen verstehen die tibetische Sprache auch nicht, sie lesen keine buddhistischen Bücher, sie gehen in den Tempel, drehen die Gebetsmühlen, verneigen sich, spenden, beten, aber die Geheimnisse des Buddhismus sind den Mönchen vorbehalten.




 

Ich fühle mich ungeheuer wohl in dieser skurrilen Landschaft, die Mongolen lachen viel und gern, sind viel weniger verschlossen als die Russen, Djerra und Ganna bilden da keine Ausnahme. Wir sitzen am Fusse des Schildkrötenfelsen, der wirklich aussieht wie eine Schildkröte und im mongolischen Glauben ein heiliges Tier ist. Die Felsenschildkröte steht hier, so der Volksglaube, um den Meditierenden zur Seite zu stehen, ein Vorbild mit seiner stoischen Gelassenheit.

 

Wir schauen Sumoringen und trinken Bier. Die letzten fünf Jahre haben sich zwei Mongolen als Champions abgewechselt, eine ungeheure Leistung für ein Land, dass nur etwas weniger als 3 Millionen Einwohner hat (das verhältnismässig am dünnsten besiedelte Land der Erde) und ein Schlag ins Gesicht der Japaner, die diesen Sport seit Jahrtausenden ausüben. Wenn der mongolische Champion Mönchbatyn noch zehn Kämpfe am Stück gewinnt, bricht er einen Rekord, der seit 1931 besteht, Die Japaner haben seit ein paar Jahren auch Ausländern erlaubt am Sumoringen teilzunehmen, da die Zuschauerzahlen schwanden und man sich von den ausländischen Ringern neue Popularität verspricht, was auch funktioniert. Gewinnt man als mongolischer Ringer ein Turnier bekommt man eine Wohnung in der Stadtmitte von Ulaan Baator, ein Auto und gilt als Held.   
Wir sitzen in der Jurte, einem Treffpunkt für die Nomaden der Gegend und alle paar Stunden kommen Teller mit Essen. Meistens ein Teller voll mit Fleisch (welches nicht mit irgendwelchen Chemikalien behandelt wurde, die Kühe und Yaks grasen ihr Leben lang und dann werden sie geschlachtet, das Fleisch hat mit unserem Fleisch nichts zu tun, mangels eines besseren Wortes würde ich sagen es hat Charakter, ich kann davon nicht genug bekommen), als Hauptspeise. Als Nebengericht gibt es Suppe mit Fleisch und Teigtaschen, gefüllt mit Fleisch. Wir rauchen sehr viel, die Stange Zigarette kostet hier 10 Dollar und niemand scheint je etwas von der schädigenden Wirkung des blauen Dunstes gehört zu haben, das Volk der letzten unbelasteten Raucher.


Nach einer Weile steigen wir auf Vodka um, welcher in der Mongolei eine unglaubliche Erfolgsgeschichte hinter sich hat, mittlerweile gibt es über hundert Sorten. Djerra hat mir ganz stolz vom Dschingis Kahn Vodka erzählt, dem zu Ehren ganz St. Moritz in mongolisches Gewand gehüllt wurde und der zahlreiche Preise gewonnen hat, also trinken wir den. Ganna und ich tun so, als wäre es der beste Vodka der Welt machen „mmmh“ und „oohhh“, um Djerra zu verarschen, der wegen einer Kopfverletzung nicht trinken darf. Einheimische gesellen sich zu uns, trinken mit, bieten uns von ihrem Vodka, ihrem Essen an.
In der Mongolei, besonders auf dem Land, ist es Tradition und beinahe eine Art Gesetz, alles mit allen zu teilen. Man könnte, selbst als Ausländer, ohne einen einzigen Tugrug durch die Mongolei reisen und würde trotzdem überall Obdach und Verpflegung finden. Schon ziemlich angeheitert beschliessen wir, reiten zu gehen. Es ist unbeschreiblich. Mit einem Schlag wird mir bewusst, dass ich mitten im mongolischen Niemandsland einem Pferd die Sporen gebe und „tscha, tscha!“ rufe, um es anzutreiben.

 

Als es dunkel wird, gehen wir ins Ger zurück, trinken weiter, alle fünf Minuten schenken wir nach, sagen „Mende“, was „zum Wohl“ bedeutet und trinken auf Ex. In der Mongolei kennt man keine Mischgetränke, man trinkt pur und nur die Frauen trinken schluckweise. Nach einer Weile haben wir zu dritt eine Flasche geleert, dazwischen gibt es mongolischen Tee (Grün oder Schwarztee, lange gekocht, dann wird Salz und Yakmilch hinzugegeben und nochmals lange gekocht, es gibt ihn überall umsonst zum Essen), Brot und Wurst. Djerra, der mittlerweile trotz der Kopfverletzung auch mit trinkt, erzählt, dass er in einem Jahr ein eigenes Geschäft eröffnen will, um Touren zu Pferd, Motorrad oder Fuss zu organisieren und noch einen Namen sucht. Seine Idee ist „Bussard-Reisen“, in der Mongolei gibt es fast jede Art von Greifvogel. Ich erinnere mich, dass er mir von den vielen Wölfen in der Mongolei erzählte und schlage „Lupus Reisen“ vor. Das gefällt ihm. Alle gängige Klischees und Namen wie „Blue Sky“(welcher in der Mongolei heilig ist) „Khan Reisen“ oder „Nomad Travel“ (meine anderen Vorschläge) sind schon besetzt und man darf hier keinen Namen zweimal haben, selbst wenn der Name einem Hotel und keinem Reisebüro gehört.
Der alte Wirt kommt zu uns und plappert, ich versteh nur das Wort „Show“. Djerra erklärt; Wenn die Menschen in Ulaan Baator mal richtig feiern wollen, trommeln sie ihre Leute zusammen, packen den Wagen voll mit Vodka, Bier, Essen und fahren in die Wildnis zu den Nomaden hinaus. Die vermieten dann ihre als Restaurant eingerichtete Jurte für 20'000 Tugrug, lassen Musik laufen, man feiert ausgelassen und torkelt dann im Morgengrauen zu den Nomaden, um dort zu übernachten. Das nennt man „Show“ und der Wirt sagt, dass wir im Winter zu ihm kommen sollen, um „Show“ zu machen, da wir nach der heutigen Trinkerei, die immer von mongolischen Gesängen unterbrochen wird, wohl als vielversprechende Kunden für so einen Ausflug erscheinen. Ich muss mir unbedingt die „geheime Geschichte der Mongolei“ kaufen, ein Buch aus der Zeit von und über Dschingis Kahn.

Es ist Nacht oder schon Morgen, ich sitze in meiner Jurte, Djerra und Ganna schnarchen und ich tippe Eindrücke in meinen Laptop, das Feuer im Ofen ist schon längst aus und es ist kalt, in der Nacht sinken die Temperaturen hier unter den Nullpunkt. Obwohl mein Hals schon rau ist, gehe ich hinaus, um zu rauchen. Die Luft ist beissend, der Vollmond (ich weiss, dass es Vollmond ist, weil die Mongolen ihren Kalender nach dem Mond ausrichten und dies eine so grosse Rolle für ihr Leben spielt, dass beim Essen lange darüber geredet wurde) ist kaum zu erkennen. Einer der Alten hat vorhin erzählt, dass hier in der Nähe ein grosser Steppenbrand tobt. In der Ferne sieht man schwach ein unruhiges Flackern. Ein Hund bellt. Das nächste Dorf ist dutzende Kilometer entfernt und doch höre ich ihn so klar und nah, als sässe er auf meinem Schoss. Seit dem Beginn meiner Reise fühle ich mich zum ersten Mal richtig zu Hause. Wegen den Visaproblemen war ich zum Schluss hin wirklich froh, Russland endlich hinter mir zu lassen, aber hier will ich nicht weg.
Ich will eine der mongolischen Frauen mit in meine Jurte nehmen und im Schein des heiligen Feuers sieben Kinder grossziehen, für jeden Tag der Woche eines, will reiten, will den Rest meines Lebens unbehandeltes Fleisch essen, will meinen Kalender anhand des Mondes bestimmen, will lachen, wie die Menschen hier es tun, ohne Ironie und Sarkasmus, will überall rauchen können, ohne die Konsequenzen zu kennen, aber mehr als alles will ich diesen Blick. Eines Tages diesen Blick, den die Alten hier haben, der in die die Ferne gerichtet ist, selbst wenn sie einem direkt ansehen.

Tag 12, Ulaan Baatar

Ziemlich verkatert komme ich in Ulaan Baatar an, verabschiede mich von den Anderen und werde von Djerra, einem deutschsprechenden Mongolen abgeholt. Wir fahren durch die noch menschenleere Stadt, besuchen ein buddhistisches Kloster, Djerra ist sehr erfreut darüber, dass ich rauche. Er sagt, viele seiner Gäste aus Euroopa seien einer Art Gesundheitswahn erlegen, am wenigsten verstehen kann er Vegetarier, für einen Mongolen ist es undenkbar, kein Fleisch zu essen. Es seien auch immer die Vegetarier, die auf seinen Touren krank würden oder mit dem lokalen Essen nicht klar kämen. Innerhalb des Tempels hat es eine vielleicht zwanzig Meter hohe Buddhastatue, komplett mit Gold und Edelsteinen überzogen, die man leider nicht fotografieren darf. An den Wänden des Tempels hat es überall kleine Fächer, in welche die Menschen Geld hinein tun, um Glück oder Erfolg zu bekommen. Mir erschien dieser pragmatische, asiatische Umgang mit Religion, dass man die Gottheit sozusagen bestechen kann, schon immer ehrlicher als die christlichen Heucheleien der Nächstenliebe. Jedes höhere Wesen spricht auf Geld oder Belohnung an, wieso sollte es bei Gott anders sein?

Als wir durch das Nationalmuseum gehen, erzählt er von Dschingis Kahn, der ähnlich wie Napoleon in Europa überhaupt erst den Grundstein legte für die Nationalstaaten wie China, Russland und eben die Mongolei und nur mit Pferden und Pfeilbögen beinahe die ganze bekannte Welt eroberte. Er glaubte an den blauen Himmel, glaubte geschickt worden zu sein, um die Welt unter einem Himmel zu vereinen, der erfolgreichste Globalisierer der Geschichte. Überall in der Mongolei finden sich Hirschsteine. Hirsche sind die Boten zwischen diesen und der nächsten Welt und trugen eben auch den Grosskahn nach seinem Tod in den Himmel. Sein Grab hat man nie gefunden, tausende Arbeiter sollen daran gearbeitet haben, Schätze der ganzen Welt sollen darin liegen. Die Grabarbeiter wurden alle getötet, um das Geheimnis des Aufenthaltsortes des Kahngrabes zu wahren und es so von Grabräubern zu schützen. Würde man sein Grab finden, wäre dies wohl der grösste, historische Fund in der Geschichte. So streifen wir durch die mongolische Geschichte. Ein weiterer Grund für den Erfolg des Kahn war übrigens die Tatsache, dass er, ähnlich wie Mohammed, andere Kulturen oder Religionen unangetastet weiter leben liess, sie mussten ihm nur Tribut zollen, in der Hauptstadt Karakorum gab es sogar Moscheen. Die Stadt ist voller Menschen, etwa eine Million der knapp drei Millionen Mongolen leben hier und das merkt man auch am Verkehr. Autofahrer nehmen die Fussgänger hier als Hindernis war und niemand käme auf die Idee abzubremsen, nur weil jemand vor seinem Auto auftaucht, Als wir nach dem Museum in eine Kneipe gehen, um zu essen, werde ich beinahe überfahren.
Das Hotelzimmer ist ein Palast, insbesondere nach dem Zimmer in Listwijanka, bei dessen Badezimmer es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis es sich als weltweit führendes Institut zur Züchtung von Schimmelpilzen durchsetzt. Ulaan Baator ist eingerahmt von Bergen und Jurtensiedlungen, die Wohnungen in der Innenstadt sind teuer, eine Jurte ausserhalb dagegen billig, dort wohnen fast keine Nomaden, sondern Geschäftsmänner, Lehrer, normale Bürger. Auch Djerra und Genna wohnen ausserhalb der Stadt.

So locker, man könnte auch sagen inexistent die Verkehrsgesetze, so streng die anderen Gesetze, Marihuanakonsum gibt zehn Jahre Gefängnis, auch die gesellschaftlichen Regeln sind streng, man erwartet von den Männern, dass sie früh heiraten und möglichst viele Kinder zeugen, Djerra hat sieben Geschwister und liegt damit im Durchschnitt, was auch die wirklich auffällig vielen Kinder und jungen Menschen auf der Strasse erklärt. Ich bin hier ein alter Mann.

Dienstag, 28. September 2010

Tag 11, Transsib

Wir hängen im Zug herum, essen, trinken Tee. Beim Rauchen freunde ich mich mit einem älteren, englischen Mann an. Er hat etwas von einem klassischen Dandy, mit Schal und einer leicht gelangweilten, gehobenen Ausdrucksweise. Ich bin beeindruckt von seinen Reiseerlebnissen. Ein Mädchen aus Argentinien gesellt sich zu uns, bringt Tee mit Rum. In einer Art Sport oder Rivalität buhlen wir um sie, erzählen Geschichten und Zweideutigkeiten. Sie unterhält sich bestens, irgendwann taucht ihr Freund auf, der sich wohl nach einer Stunde gewundert hat, wo sie steckt. Ein Tscheche bringt Brot und Gurken. Wir plaudern und er erzählt, dass er die Sommer seiner Kindheit in der Schweiz, genauer in Thalwil verbracht hat, was mich, schon leicht angeheitert und im Redefeuer, ziemlich aus den Socken haut. Thalwil ist gleich um die Ecke des Dorfes, in dem ich meine Kindheit verbracht habe und er sei auch oft im Langnauer Wildpark gewesen. Vielleicht bin ich ihm als Kind sogar mal begegnet. Wir bringen den alten „die Welt ist ein Dorf“-Spruch und ich gehe zurück in mein Abteil. Dort geht es hoch her. Erik, ein Schwede, und seine Freundin sitzen da mit Chris und Ruth.
Alle sind ziemlich angetrunken. Ich setze mich dazu und wir sprechen über Politik und darüber, dass es in Stockholm scheinbar eine Stadt unter der Stadt gibt. Eine ganze Stadt im Untergrund. Ich erzähle von den Armeestädten innerhalb der Schweizer Berge und alle schauen ungläubig. Wir sprechen über Mankells Wallander, von dem ich vor ein paar Jahren regelrecht besessen war und Erik sagt, dass in Ystad, wo die Romane spielen, in Wahrheit vielleicht 9000 Menschen leben, es also äusserst unwahrscheinlich sei, dass dort so viele Morde passieren. Wir lachen. Erik ist Krankenpfleger, seine Freundin Kindergärtnerin, Ruth ist Psychologin und Chris arbeitet für HSBC. Alle ausser Chris sind also in sozialen Berufen., was man der Diskussion anmerkt. Wie immer sage ich auch hier, dass ich Lehrer bin, wenn mich jemand nach meinem Beruf fragt, man muss ja nicht gleich die ganze Lebensgeschichte erzählen und immerhin war ich mal auf dem besten Weg, Lehrer zu werden. Jedenfalls dreht sich die Diskussion bald um das Gesundheitswesen, bald um Politik. In allen Ländern der Beteiligten ist die Situation dieselbe. Die rechten Parteien schüren Angst vor allem, was anders oder neu ist, obwohl man, was Bevölkerungswachstum und Erledigung der Arbeit, die kein Einheimischer machen möchte, auf diese Zuwanderer angewiesen ist und gerade die rechten Parteivertreter von eben diesen billigen Arbeitskräften oftmals am meisten profitieren. In meiner Zeit als angehender Lehrer wurde an der pädagogischen Hochschule das skandinavische Modell als erstrebenswertes Ideal dargestellt, wir haben sogar Filme aus schwedischen Schulen geschaut. Die Geschichten, die Erik aus seiner Schulzeit erzählt, relativieren dieses Bild, ja zeigen, dass dort dieselben Mechanismen wie überall laufen. Es geht um Selektion, Menschen werden eingeteilt, um in irgendeine Wirtschaftssparte zu passen. Die mongolische Zugbegleiterin streckt zum hundertsten Mal ihren Kopf in unser Abteil, flucht auf mongolisch und hält ihren Finger vor die Lippen, ich schaue auf die Uhr, es ist 3 Uhr morgens, um 6 hält der Zug in Ulaan Baator. Erik, Chris und ich torkeln Richtung Toilette. Erik geht zuerst, es dauert so lange, dass ich gegen die Wand gelehnt weg döse. Nach ihm betrete ich den engen Raum, es stinkt bestialisch, Ich atme durch den Mund, pisse schnell ins Waschbecken, wasche Hände und Gesicht. Als ich herauskomme, frage ich: „did you kill something in there?“ Irgendetwas an dem Satz legt bei uns allen einen Schalter um, ein Damm bricht, wir bepinkeln uns fast vor lachen. Die mongolische Provodnica kommt, ernsthaft wütend, mit einem Stock in der Hand, den sie braucht um Fenster zu schliessen und treibt uns förmlich in die Kabinen zurück.

Donnerstag, 23. September 2010

Tag 10, Nauski / Grenze Russland - Mongolei

Endlich habe ich wieder mal gut geschlafen, das Geräusch der Gleise und die Vibration des Zuges wirken wunderbar einschläfernd. Als ich erwache hat sich die Landschaft komplett verändert, Steppe, Hügel, karge Landschaft, kleine, ärmliche Dörfer, umgeben von hölzernen Schutzwällen wie in dem berühmten kleinen gallischen Dorf, das es wagt den Römern Widerstand zu leisten. Hier ist die Natur der Feind, so schön sie auch ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man hier überlebt, vor allem im Winter. Es hat nichts, ein paar vereinzelte Kühe und der Boden sieht nicht aus, als würde darauf mehr als Gestrüpp wachsen.

Nach Abteildurchsuchungen und Befragungen der russischen Grenzwächter endlich in der Mongolei angekommen. Die Toiletten werden vor und nach der Grenze geschlossen, wir warten über vier Stunden an der Grenze und dementsprechend gross ist der Andrang vor den Toiletten nach der Grenze. Die Atmosphäre im Zug ist völlig anders als noch auf der Fahrt von Moskau nach Irkutsk, alle können in irgendeiner Sprache miteinander reden, teilen ähnliche Erfahrungen, es hat etwas von einer Gemeinschaft. Zu diesem Bild passt, dass wir seit Nauski (der Grenzstadt) nur die Lokomotive und einen Wagen haben, „the tourist train“ nennt ihn Ruth. Eine Gemeinschaft von Reisenden, eine spezielle Art von Menschen, irgendwie befreiter und offener als die Leute, die man sonst so trifft. Viele kommen zu mir und fragen mich nach Nordkorea, Preise, Touren, Visa, niemand hat bisher ernstlich in Betracht gezogen dort hinzureisen. Ich könnte ein Buch füllen mit all den Tipps für Indien, Nepal, Kambodscha und eben Laos, welches jetzt definitiv auf meiner Reiseroute steht. Ich ertappe mich dabei, nach all der Zeit allein oder in russischer Gesellschaft, etwas aufdringlich und zu gesprächig zu sein und muss mich zurückhalten, nicht jeden Reisenden voll zu labern, den ich beim Samowar oder rauchen treffe. Es hat ein französisches Mädchen im Nachbarabteil, mit dem ich mich nett unterhalte und die mich manchmal verstohlen, manchmal ganz offen ansieht, aber hier hat man einfach keine Möglichkeit für einen ungestörten Moment.

Halt in der Mitte der Nacht an einem Bahnhof, voll von Leuten, die nicht auf einen Zug warten, sondern einfach herumstehen und plaudern, sicher die Hälfte davon sind Kinder. Chris erzählt, dass über 50 % der mongolischen Bevölkerung unter 14 Jahren alt ist (!). Die Mongolen sind gesprächiger als die Russen, alle plaudern, Kinder und Hunde tollen umher, es wird gelacht, Gewürzdüfte liegen in der Luft. Ich stehe da und rauche, als ein vielleicht vierjähriges Mädchen an der Hand zwischen Mutter und Vater stehen bleibt und mich aus grossen Augen ansieht. Die Mutter führt es zu mir zeigt auf mich und dann gehen sie weiter, als wäre ich ein exotisches Tier.

Tag 9, Visaprobleme Irkutsk

Der Tag hat schon schlecht begonnen, ich habe mich die halbe Nacht übergeben, hätte wohl den Kebabspiess am Strassenrand nicht essen sollen. Folgendes Problem:
Ich bin seit 4 Tagen illegal in Russland. Mein Visa war nur gültig bis zum 16.09.10 und heute ist der 21.09.10. wahrscheinlich hat die Visafirma geschlampt. Jedenfalls wurde ich um 8 Uhr morgen
s abgeholt, wollte aber zuerst frühstücken, weil ich mir schon dachte, dass es ein langer Tag werden würde. Der Fahrer ist wild entschlossen, die durch das Frühstück verlorene Zeit aufzuholen und rast mit 150 km/h von Listwjanka nach Irkustk, erlaubt, oder besser empfohlen sind 60 km/h. Wie ein Irrer kurvt er durch die wunderschöne Landschaft, die kurvige Strasse geht auf und ab, einmal heben wir beinahe ab und ich brauche meine ganze Konzentration, um mein Frühstück unten zu halten.


Dann Immigrationsbüro, meine charmante Begleitung namens Jelena vom zuständigen lokalen Reiseveranstalter redet auf einen schlecht gelaunten Bürokraten ein. Es gibt zwei Möglichkeiten;

Entweder muss ich morgen nach Moskau und von dort zurück nach Zürich fliegen, oder sie lassen mich heute Abend mit der Transsib nach Ulan Bator weiterreisen. Meine Begleitung sagt, dass für die Behörden beide Möglichkeiten unangenehm sind und einen Papierkrieg nach sich ziehen, einfacher wäre es wohl, mich einfach weiterreisen zu lassen. Eine Strafe von 3000 Rubel für den illegalen Aufenthalt muss ich aber sowieso zahlen, ausserdem darf ich für fünf Jahre nicht mehr in Russland einreisen. Jetzt sitze ich im Büro von Baikal Travel, trinke Tee und warte.

Das Immigrationsbüro ist unglaublich heruntergekommen, alle rauchen in ihren kleinen Büros, mit Photos von Putin und Medwedew an den Wänden, die Gänge sind voll von Usbeken, Turkmenen und Mongolen, die in Russland arbeiten möchten. Zum Glück habe ich Verstärkung mitgebracht, Jelena und Olga von Baikal Travel. Die nächsten Stunden hetzen wir von Abteilung zu Abteilung, ich muss einen Report ausfüllen und begründen, weshalb ich die letzten vier Tage illegal in Russland verbracht habe, alle Reisedokumente vorweisen und zum Schluss werden mir die Fingerabdrücke abgenommen

Um 17 Uhr macht das Büro zu und es ist bereits 17.15 Uhr. Es sieht schlecht aus. Dann betreten wir ein kleines Büro, in der eine nett wirkende, alte Dame sitzt. Olga und Elena reden auf sie ein, ich habe die Hoffnung schon seit einer Stunde aufgegeben und will nur noch ein Hotel in Irkutsk suchen und mich hinlegen. Dann plötzlich Betrieb, Aufregung, wir gehen in den Keller, füllen Formulare aus, bringen sie in ein anderes Büro. Es sieht gut aus, doch jetzt gefällt der einen Sekretärin mein Passfoto nicht, das ich noch in Zürich gemacht habe, der Hintergrund ist nicht weiss genug. Wilde, laute Diskussionen, ich verstehe nur „visa“, „problem“ und „passport. Olga übersetzt und sagt, wie schon den ganzen Tag „man muss abwarten.“ Es ist 17 Uhr 45, mein Zug fährt in zwei Stunden, Putzleute säubern bereits die Gänge. Dann, plötzlich geht es und ich bekomme ein Transsib-Visum. Man muss sch schon einmal mit russischer Bürokratie auseinandergesetzt haben, um zu verstehen, was für eine Leistung das ist, in einem Tag ein Visum zu bekommen, eigentlcih ein Ding der Unmöglichkeit. Erschöpft und glücklich lade ich Jelena und Olga auf Pizza und Bier ein, danach verabschieden wir uns herzlich.




Ich decke mich mit Proviant ein und erwische den Zug. Mein Waggon ist voller Europäer, beinahe alle Sprachen sind vertreten, als wäre ich im Turm von Babel. Mit mir im Abteil sind Chris und Ruth aus Birningham und Luisa aus Porto, nette Menschen, wir trinken Vodka und erzählen uns von unserer bisherigen Reise. Chris erzählt mir von einem Ort in Laos, der sich nach Paradies anhört. Er liegt an einem Fluss, auf dem die Einheimischen aufgeblasene Lastwagenpneus hinunter treiben lassen, man hüpft auf und lässt sich vier, fünf Stunden treiben, während einem Händler in Booten Snacks und Bier anbieten. Muss ihn nochmals nach dem Namen des Ortes fragen.

Tag 8, Baikalsee

Ich erwache in dem schäbigen Zimmer, das immer noch nach ihr riecht, dusche ausgiebig, schaue auf die Uhr, das Frühstück habe ich verschlafen. Es ist kalt hier, nicht so kalt wie in Irkutsk, der Baikalsee dient als ungeheurer Wärmespeicher. Das Wetter kommt hier etwa 3 Wochen verzögert, wenn es in Irkutsk Winter ist, sind die Temperaturen hier oft noch angenehm, obwohl Irkutsk höchstens eine Stunde entfernt ist. Ich gehe das Ufer entlang, halte Ausschau nach dem Cersko-Felsen, von wo man die beste Aussicht haben soll. Auf einem Schild lese ich etwas, von dem ich hoffe, dass es „Skilift“ bedeutet und folge dem Weg durch die Wälder, plötzlich taucht ein Tier vor mir auf. Ich denke zuerst es ist ein kleiner und, e hat aber einen zu grossen, pelzigen Schwanz, bevor ich ein Foto machen kann, ist es verschwunden. Ich denke es war ein Zobel, sein Schwanz hat jedenfalls so ausgesehen, als würde er einen schönen Mantel abgeben. In einer Lichtung im Wald entdecke ich den Sessellift, er läuft nicht, trotzdem gehe ich hin. Eine alte Frau hockt in einem kleinen Häuschen, ich kaufe ein Ticket, sie deutet auf den Lift. Ich setze mich, donnernd erwacht die Maschine zum Leben.




Schon in Listwjanka ist mir aufgefallen, dass die Hauptsaison wohl vorbei ist, viele der Restaurants bleiben geschlossen, in meinem ziemlich grossen Hotel hat es vielleicht zwanzig Gäste. Die Landschaft ist unglaublich, hinter mir erstreckt sich, von bunten Bäumen eingerahmt der gewaltige See. Auf Cerskovs Fels angekommen, verschlägt es mir den Atem, so gewaltig erscheint der See. Ich setze mich hin, rauche, vom Anblick in eine Art Dauerrausch versetzt, mache ich ein Photo und Film nach dem andern, als bräuchte ich einen Beweis, um später noch sicher zu sein, dies wirklich gesehen zu haben. Ich setze mich auf die Erde, starre unentwegt auf das sich stets verändernde Panorama. Hier ist die Stelle, wo der Fluss Angara den Baikalsee verlässt. Angara ist der einzige Abfluss und würde man die 336 Zuflüsse unterbinden, würde es trotzdem noch drei Jahre dauern, bis der See vollständig abgeflossen wäre. Der Baikal bildet das grösste Reservoir flüssigen Süsswassers der Erde mit einem Fünftel der flüssigen Süsswasserreserven.

Die Geländer des Unterstands und die Gebüsche auf dem Felsen sind voll mit Bändel von früheren Besuchern. Dieser Brauch geht auf die sibirischen Ureinwohner zurück, wenn man etwas von sich in den Wäldern zurücklässt, bevor man weiterzieht, stimmt man die lokalen Waldgeister gnädig. Ich will auch etwas zurücklassen, denn für meine weitere Reise brauche ich jeden wohlgesinnten Geist, den ich kriegen kann. Ich habe nichts dabei, nur ein Pflaster und das scheint mir irgendwie unpassend. Ich schaue auf mein Handgelenk, wo ein Bändel ist. Diesen Bändel habe ich vor über zehn Jahren angelegt, er erinnert mich an eine wichtige Zeit in meinem Leben und er ist seither nicht abgefallen. Ich ziehe probeweise daran und beinahe sofort reisst er ab. Ich stutze. Zehn Jahre. Diejenigen von euch die mich schon mal näher betrachtet haben, kennen den Bändel. Offensichtlich soll ich ihn hierlassen, also binde ich ihn an einen Ast.







Nach einer Weile reisse ich mich los, mache mich an den Abstieg, taste beständig über das nun nackte Handgelenk. Unten am See angekommen, setze ich mich an das Denkmal des Schriftstellers Aleksandr Vampilov, er ist an dieser Stelle bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen.



Der See ist so sauber, dass sein Wasser in ganz Russland als Trinkwasser in Flaschen verkauft wird und die Menschen es auch direkt daraus trinken.




Ich könnte mein Leben damit verbringen, den Baikal zu betrachten und es wäre kein verschwendetes Leben gewesen.


Tag 7, Irkutsk / Baikalsee

Ich wurde heute äusserst unsanft geweckt. Dazu muss man Folgendes wissen; Ich habe in den letzten Tagen sechs Zeitzonen durchquert und wenn man am Morgen aufstehen muss und nicht weiss in welcher Zeitzone man sich befindet, verspricht das einen unruhigen Schlaf. Im Zug ist überall Moskauer Zeit angegeben, aus irgendeinem Grund fällt mir das aber nicht ein, als ich vor dem Schlafen das letzte Mal auf die Zuguhr schaue und denke um 22 Uhr, dass ich ja noch 8 Stunden Schlafzeit habe, nur ist es da in Wirklichkeit schon 4 Uhr morgens, 2 Stunden bis Irkutsk. Eineinhalb Stunden später rüttelt mich also Sergei, der Geologe, stürmisch aus dem Schlaf und ruft „Irkutsk!“ Tatjana ist auch wach und alle lachen, als ich Richtung Toilette torkle. Schlaftrunken denke ich, dass sie sich einen Scherz erlauben, vielleicht etwas, das auf der Bahn Tradition hat, dass man die Ausländer ein bisschen verarscht. Ich denke also, es ist 0 Uhr und will mich wieder hinlegen, gemeinsam halten sie mich davon ab und deuten auf ein Gebäude auf dem rot und gross „Irkutsk“ steht. Reflexartig packe ich mein Zeug zusammen, aber Tatjana, Olad und Sergei setzen sich hin und bedeuten mir, es ihnen gleich zu tun. Tatjana holt einen Panettone aus ihrer Wundertüte, schneidet jedem ein Stück ab und dann singen sie. Es dauert einen Moment, bis ich merke, dass es die russische Version von „Happy Birthday“ ist. Vielleicht durch den wenigen Schlaf habe ich Tränen in den Augen. Zu Beginn der Reise hatte ich Tatjana meinen Pass mit den Visa gezeigt, um meine vor mir liegende Route zu verdeutlichen und sie hatte sich an mein Geburtsdatum erinnert. Kurz darauf packen wir unser Zeug und steigen aus, Tatjana begleitet uns, sie kann sich nicht vorstellen, dass um sechs Uhr morgens wirklich jemand am Bahnhof auf mich wartet, so oft ich ihr das auch versichere.

Da steht sie. Blond, gross, leicht zitternd, denn in Irkutsk ist es vielleicht fünf Grad, mit einem Schild, das meinen Namen trägt in der Hand. Ihr Name ist Inna, sie spricht deutsch mit einem Akzent, der mehr französisch als russisch klingt, sonst aber beinahe perfekt. Ich trage immer noch meine Trainerhosen aus dem Zug und bin auch sonst recht unbeholfen. Sie fragt, ob wir gleich mit der Tour beginnen oder zuerst frühstücken wollen. Wir gehen frühstücken, im Keller eines Hotels, drei Gänge. Nach dem zweiten kann ich nicht mehr. Wir reden und reden, die drei Tage voller sprachlicher Missverständnisse und resignierter Gesprächspausen im Zug haben in mir einen unglaublichen Durst nach Konversation zurückgelassen. Ein Fahrer taucht wie ein Geist aus dem nichts auf. Wir gehen durch die dämmernde Stadt, die man das Paris von Sibirien nennt und ich kann sehen, weshalb. Breite Strassen und Gehwege, klassizistische Gebäude, Kinos, Theater, Puppenhäuser, Parks und ein Fluss, Angara, der die Seine wie ein dünnes Rinnsal aussehen lässt. Inna ist ein wandelndes Lexikon, ihr Wortschatz ist unglaublich, egal ob wir über Architektur, Geschichte oder Biologie reden. Wir gehen durch die noch menschenleere Stadt und immer wieder taucht der Fahrer aus dem nichts auf und bringt uns an einen neuen wunderbaren Ort.







Als wir bei einer Erlöserkirche stehen, die gleichzeitig das älteste Gebäude Irkutsks darstellt, beginnen die Glocken zu läuten, sie rufen zum Morgengebet.




Wir betreten die Kirche. Die Menschen stehen da, zum Altar gewandt. Ein Priester spricht, halb singend die Gebete, am Ende jedes Satzes bekreuzigen sich die Menschen und senken den Kopf, am Schluss gehen die Frauen auf die Knie oder berühren kurz den Boden. Auch Inna beteiligt sich am Gebet und lächelt mir dazwischen zu, ihr Haar unter der Kapuze ihrer Jacke verborgen, die anderen Frauen tragen Kopftücher, keine von ihnen ist barhäuptig. Jemand geht mit dem Sammelteller herum, ich lege, von der Zeremonie und dem mangelnden Schlaf noch ziemlich benommen, einen Schein hinein, ohne zu wissen, was für einen. Draussen fragt Inna, wieso ich Religionswissenschaft studiere, wenn ich doch ungläubig sei und ich habe beim besten Willen keine Antwort darauf. Irkutsk hat eine blutige Geschichte, viele Rotgardisten wurden aus Petersburg oder Moskau vom Zar hierher in die politische Verbannung geschickt:

Im Dezember 1825 revoltierte eine grosse Gruppe russischer Adliger gegen Nikolaus I.. Die Revolte wurde niedergeschlagen und die so genannten Dekabristen wurden nach Sibirien verbannt und siedelten sich großssteils mit ihren Familien in Irkutsk an. Die Dekabristen hatten einen immensen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung und das Selbstverständnis der Stadt und sind auch heute noch im allgemeinen Bewusstsein sehr präsent.

(Von diesen Dekabristen oder eben Dezemberisten hat die Band The Decemberists übrigens ihren Namen.)

Die Stadt ist voller Denkmäler, ob hingerichtete Weissgardisten oder die in jeden russischen Stadt vorkommende, ewige Flamme für die Opfer des zweiten Weltkriegs.



Wir gehen hinunter zum Fluss, wo viele frisch verheiratete Paare hinkommen, um sich ablichten zu lassen und es Tradition ist, ein Schloss, als Zeichen des ewigen Bundes an das Geländer zu ketten. Einige der Schlösser sehen aus, als wären sie schon Jahrzehnte dort. Ich frage Inna, ob sie verheiratet ist, sie schüttelt errötend den Kopf. Eine Katze kommt auf uns zu und beginnt sich wie wild an meinem Bein zu reiben, sie versucht ernst zu bleiben und spricht über die Herkunft eines Denkmals von Zar Nikolaus. Ich blicke streng und interessiert drein, während die Katze Richtung Höhepunkt steuert. Inna sieht mich an und beide ziemlich übermüdet lachen wir wie die Irren, die Spannung der letzten Tage fällt von mir ab, wir können gar nicht mehr aufhören. Eine dicke Frau joggt vorbei, sieht uns irritiert an, wir lachen, bis die Augen tränen und der Bauch schmerzt. Je länger, je mehr kommt mir die Tour wie eine Verabredung vor.



Der Fahrer taucht aus dem nichts auf und wir machen uns auf den Weg nach Listwjanka, einer Stadt direkt am Baikalsee, unterwegs halten wir beim Freilichtmuseum Talzy:

36 alte Bauten wurden hier wiedererrichtet: ein Ewenken-Lager, burjatische Jurten, Bauernhäuser, Kirchen und ein Teil einer von den russischen Sibirien-Eroberern Ostrog genannten Holzfestung. Dieser Ostrog stand ab 1630 in Ilimsk, etwa 500 Kilometer nördlich des heutigen Irkutsk. Mit der Zeit wurde diese Festung mit ihren acht Türmen zum regionalen Zentrum. Der Spasski-Torturm des Ilimsker Ostrogs steht heute in Talzy, weil Ilimsk durch dem Ust-Ilimsker Stausee überflutet wurde. Neben dem Festungsfragment stehen eine aus dem 17. Jahrhundert stammende Kapelle, ebenfalls aus Ilimsk, sowie eine Kirchenschule aus dem 19. Jahrhundert.

Daneben ist das Museum Leben, Gebräuchen und Traditionen in der Kultur der Bewohner Transbaikaliens – Russen, Burjaten und Ewenken – im 19. und 20. Jahrhundert gewidmet.


Wir besuchen das Baikalseemusem, viele ausgestopfte Tiere, viele Tiere auch, die nur hier vorkommen. Ich bin voll mit Informationen über Flora und Fauna. Inna redet und redet, sie spricht in einem Fluss und man merkt, dass sie diesen See liebt, sich wirklich für die historischen und biologischen Fakten begeistert und ihre Begeisterung, ihr Wesen ist ansteckend. Im Keller des Museums befindet sich ein Aquarium, darin neben Golomjanka und Omul, die ich im Laufe der nächsten Tage zu verspeisen hoffe, auch die Baikalrobbe, ebenfalls einzigartig auf der Welt und nur eine von zwei Robbenarten, die im Süsswasser vorkommen. Der ganze Baikalsee gefriert im Winter, eine meterdicke Eisschicht bedeckt ihn. Dick genug, dass ihn im Winter selbst Lastwagen überqueren, die Baikalrobben haben lange Krallen, um beständig Löcher in den dicken Eispanzer zu graben, um atmen zu können.


Zwei Drittel der rund 1500 Tier- und 1000 Pflanzenarten sind endemisch.“ sagt Inna gerade und fährt auf meinen fragenden Blick hin fort „endemisch bedeutet einzigartig.“ Irgendwie beschämt es mich, dass sie in meiner Sprache Wörter kennt, die ich nicht kenne und nicht nur ein paar, sondern dutzende. Wir gehen am Ufer entlang und irgendwann treffen sich unsere Hände, sie bringt mich in mein Hotel und regelt alles an der Rezeption, ich frage, ob sie mich auf mein Zimmer begleiten möchte, sie nickt errötend und sagt, dass sie später wieder zurück nach Irkutsk müsse. Es ist sehr schön.

Als ich erwache ist es schon dunkel, ich stelle den Fernseher an, es ist ein Uhr morgens. Modern Talking, die hier unerklärlicherweise sehr grosse Popularität geniessen, singen “you're my heart, you're my soul“. Auf dem Nachttisch liegt mein Billett für die Weiterreise mit der transsibirischen Eisenbahn und mein Programm für den morgigen Tag, welches sich auf die Wörter „Breakfast“ und „Free Day“ beschränkt, darunter mit Kugelschreiber geschrieben, ihre E-Mail-Adresse.